Auf der Reise mit einem anderen Ich

Dass Reisen bildet und uns im wahrsten Sinne des Wortes „weiter bringt“, ist nichts Neues. Es weitet den Blick, verändert sekündlich die Perspektive und verschafft uns ungewöhnliche Begegnungen.
Von einer solchen möchte ich erzählen.

An einem Abend im Januar, an dem durch einen gerade überstandenen Orkan mit einem hübschen norddeutschen Frauennamen im Bahnverkehr ohnehin schon alles durcheinander lief, war ich dienstlich mit der Bahn unterwegs. Diesmal nicht zum Pendeln nach Hause und nicht allein, sondern auf Dienstreise, mit drei Kolleg*innen. ((Das schreibe ich jetzt absichtlich mit diesem Sternchen …)).

Nach einer längeren Odyssee verschlug es uns in einen umgeleiteten IC, der viel zu spät dran war und irgendwann an unserem Bestimmungsort ankommen sollte, zur Weiterfahrt nach Hamburg. Trotz dieses attraktiven Fahrtziels mit vielen normalerweise gut frequentierten Zwischenhalten und trotz einiger ausfallender ICEs war dieser IC erstaunlich leer.

Quer über den Gang mit direktem Blickkontakt saß ein junger auffallend hübscher Mensch, dessen Blicke sich manchmal mit meinen kreuzten. Das gesamte Abteil war erfüllt von diesem unverwechselbaren Geist der Solidarität, der sich unweigerlich ausbreitet, wenn Menschen in eine unangenehme, aber zunächst noch ungefährliche Ausnahmesituation geraten. Man lacht zusammen, man scherzt, man unkt, man schimpft ein bisschen und spekuliert über Weiterfahrt und Ankunft.

Als  der sportlich, gepflegt und nicht ganz billig gekleidete junge Mann aufstand und in unsere Richtung den Gang entlang ging, sah ich, dass er sehr feine Züge hatte und größer war als ich gedacht hatte. Im Vorbeigehen bat er mich, einen Blick auf seine Sachen zu werfen, während er sich einen Kaffee hole.

Während er kurz im Speisewagen war, entspann sich zwischen uns lose zusammengewürfelten Reisegefährten ein anregendes Gespräch über weibliche und männliche Anreden und das sog. „Dritte Geschlecht“. Ausgelöst worden war dieses Thema aber nicht durch unseren Mitreisenden, den die anderen noch gar nicht wahrgenommen hatten, sondern durch die Frage, wie wir denn nun unsere Zielgruppe ansprechen und -schreiben sollten und dass man das Dritte Geschlecht durch einen Unterstrich zwischen Bezeichnung und angehängtem „innen“ kennzeichne.
Der junge Mensch war zwischenzeitlich zurückgekommen und hatte im Vorübergehen noch kurz etwas Offensichtliches wie „Dankeschön, da bin ich wieder.“ gesagt.
Mir fiel auf, dass er unserer nicht gerade leise geführten Unterhaltung aufmerksam zuhörte. Und er bemerkte, dass mir dies auffiel.

Als er seinen leeren Kaffeebecher zum Mülleimer brachte, blieb er auf dem Rückweg an unserem Vierertisch stehen und sprach mich mit den Worten an: „Ich wollte Ihnen noch was sagen.“
Spätestens da wusste ich, was ich vorher schon geahnt hatte. Dieser schöne androgyne Mensch gehörte selbst dem Dritten Geschlecht an! Da er oder sie sich auf den freien Platz am Gang mir gegenüber setzte und auf meine zunächst vorsichtigen Nachfragen sehr offen und freundlich reagierte, traute ich mich direkt zu fragen, ob er persönlich „betroffen“ sei. „Ja, ich fühle mich keinem Geschlecht zugehörig.“ Das saß!

In meinem Kopf lief ein Film ab. Was ist das wohl für ein Leben, wenn man eines Tages feststellt, dass man weder Frau noch Mann ist – und auch weder das eine noch das andere sein möchte, sondern etwas „dazwischen“, für das es bisher noch wenige Lebensmodelle und nicht einmal ein passendes Personalpronomen gibt?!

Er und sie, aber sicherlich nicht es, zeigte mir sein Bahnticket. Dort war ersie als „Frau“ ausgewiesen – und die Bahn biete auch nicht die Möglichkeit, beim Ausstellen eines Tickets auf die Angabe des Geschlechts zu verzichten, was hingegen bei seinihrer Bank möglich sei.

Ich hatte und habe noch viele Fragen an diesen ungewöhnlichen und sanften jungen Menschen. Aber inzwischen waren wir kurz vor der Ankunft an unserem Bestimmungsort und mussten unsere Sachen zusammenraffen und unsere Jacken anziehen.
Darf ich noch weiter fragen?! Wenn Sie, lieber @Mitreisender aus einer Stadt am Rhein mit chemischer Industrie, dies zufällig – und es wäre ein großer Zufall! – lesen und sich wiedererkennen: Sprechen Sie mich doch bitte bei unserer nächsten gemeinsamen Fahrt wieder an! Oder jemand anderen, der Ihnen sympathisch ist. Denn diese Reise sollten Sie nicht ganz allein machen.

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