Über ein halbes Jahr, nachdem ich diesen Beitrag (ab)geschrieben habe, um ihn anschließend zu rezensieren, stelle ich fest, dass es sich um eine Art ,Unvollendete/n‘ handelt, denn … nachdem ich den Ausschnitt, den ich für ausschneidenswert gehalten hatte, abgetippt hatte, hatte ich ihn wohl veröffentlicht, ohne ihn korrekt zu vollenden. So fehlte zum Beispiel am Ende die vollständige Quellenangabe, was wohl auch daran liegt, dass dieses Buch — jetzt fällt’s mir wieder ein — mittlerweile nur noch als E-Book erhältlich ist. Jetzt begegne ich also dem selbst ausgewählten Textauszug nach Monaten wieder, und mein erster Gedanke ist der nach der Vita des Autors und den Umständen, unter denen er in den Monaten, als ich das erste Mal von ihm hörte und las, lebte. Eine nicht ganz freiwillig, aber immerhin selbst gewählte (oder umgekehrt: selbst gewählte, nicht ganz freiwillige) Isolation, krankheitsbedingt, um sich gegen seine Umwelt abzuschotten, sicherheitshalber. Bevor ich also diesen Beitrag wieder aufgreife, schaue ich, ich geb’s zu, erstmal nach, was ich im Internet über Michael Krüger finde und bin total erleichtert, dass es nichts Schlimmes zu vermelden gibt.
Aber jetzt gehen wir nochmals mit frischem und von den Umständen ungetrübten Blick an den Ausschnitt, den ich ausgesucht hatte — und ich glaube, ich hätte heute, mit etwas Abstand und wieder ein kleines Stück Lebensweg weitergereist, denselben wieder genommen.

Wir hielten eine halbe Stunde vor Nürnberg auf freier Strecke, weil Menschen sich im Gleisbett befanden, wie uns mitgeteilt wurde. Was machten Menschen im Gleisbett? Hatte der Zug kein Horn, mit dem man sie vertreiben konnte?
In den letzten Wochen hatte ich schon ein paar Mal wegen Menschen im Gleisbett meine Fahrt unterbrechen müssen, was sich wegen der Anschlussverbindungen als verheerend herausgestellt hatte, Wartereien, zusätzliche Übernachtungen, hilflose Versuche, den finanziellen Schaden über Beschwerden auszugleichen, weil die Beschwerdestelle nichts von Menschen im Gleisbett mitbekommen hatte. Wer soll denn im Gleisbett gewesen sein, davon hätten wir doch gehört!, hieß es dann, wenn ich die einhunderteinundsiebzig Euro zurückhaben wollte. Man machte mich zum dummen August, kein Mensch hält sich heutzutage aus freien Stücken im Gleisbett auf, was soll er denn da machen im Gleisbett, wo doch neben dem Gleisbett die allerschönste Natur sich zeigt, der Hafer oder die Zuckerrüben, der wilde Mohn und die Wicke, da legt sich doch keiner ins Gleisbett! Und wenn sich einer umbringen wollte oder von dem Zug erfasst worden war? Wie verzweifelt muss einer sein, der sich vor einen Zug wirft?
Vor allem aber wurde ich durch die ungeplanten Aufenthalte gezwungen, in den Bahnhofsgaststätten zu essen, in einer Umgebung, die mich bedrückte. Bahnhöfe waren zu einer verlängerten Fußgängerzone geworden, in der Fahrgäste eigentlich unwillkommen waren, vor allem, wenn sie Koffer dabei hatten, Rollkoffer, unförmige Taschen und Kinder, weil sie den Bewegungsradius der Kauflustigen eindämmten, die hier ihre Wocheneinkäufe machten oder einfach herumschlenderten oder sich zum Kaffee verabredet hatten.
In der „Bahnhofsrevue“ hatte ich gelesen, dass manche Menschen ihre gesamte Freizeit im Bahnhof verbringen, in der „bunten Bahnhofswelt“, und nicht nur die Obdachlosen, die Taschendiebe und Flüchtlinge, sondern Menschen mit festem Einkommen, die den ganzen Tag vor einem Computer saßen und ab drei Uhr an nichts anderes mehr als an den Bahnhof denken konnten!
Zwischen diesen Bahnhofsfreaks musste ich dann mein Essen einnehmen. Wenn ich allein dreimal in vier Wochen meine Reise wegen Menschen im Gleisbett zu unterbrechen gezwungen war, dann hieß das doch, dass täglich wegen dieses sonderbaren Aufenthaltsorts die Fahrpläne geändert werden mussten! Was früher das Frühstück im Grünen war, war jetzt zu einem Picknick im Gleisbereich geworden!
Der Sinn der Bahn hatte sich geändert, nicht mehr Bewegung, sondern Stillstand. Je mehr die Bahn in die Technologie einerseits, in die Ausschmückung der Bahnhöfe zu Konsumzentren andererseits investierte, desto mehr Menschen ließen sich im Gleisbereich nieder, im auf freier Strecke immer noch relativ wenig überwachten Niemandsland, wo es natürlich schöner ist als in den Bahnhöfen und wo der Naturliebhaber wegen der dort sich ausbreitenden Pflanzenkulturen ein reiches Anschauungsfeld vor Augen hat. Die Universität Augsburg hat an der Strecke Augsburg–Ingolstadt allein siebzig verschiedene, zum Teil eingeschleppte Wurze gezählt, von der Asiatischen Pestwurz bis zur Karpatenwurz, dazu noch etliche Missbildungen von Filzigem Pestwurz, die schon bald als eigenständige Pflanzen geführt werden konnten, wie die „Bahnhofsrevue“ berichtete. Was früher an den Feldrändern wuchs, aber im Laufe der letzten Jahre durch exzessive Düngemittelstrategien abgewürgt worden war, hatte sich nun an den Bahngleisen versammelt. Ein abgerissenes Völkchen, aber immun gegen Wetter, Wind und Abgase, den Gastarbeitern ähnlich, die früher am Wochenende in ihren Sonntagsanzügen auf den Bahnhöfen standen und den Zügen hinterherblickten. 

Die Durchsage wurde mehrfach wiederholt, es war also offenbar mit Schwierigkeiten verbunden, die Menschen aus dem Gleisbereich zu vertreiben. Oder hatte ein Selbstmord stattgefunden? Ich habe in meinem Reiseleben nie die Durchsage gehört, ein Mensch sei auf den Gleisen zu Tode gekommen. Nie. Nur Beschwichtigungen, Euphemismen in zwei Sprachen, manchmal noch italienisch. Nie die Wahrheit. 

Michael Krüger, Vorübergehende. Haymon Verlag 20[xy] ((sorry, ich weiß es nicht mehr … und finde im Moment auch das E-Book nicht mehr wieder auf meinem PC, man möge mir die Ungenauigkeit also verzeihen)), Seite 5[x] ff. ((dito … das war irgendwas in den 50ern; wenn ich das E-Book wiederfinde, trage ich’s nach, versprochen!))