Ich bin in eine fremde Welt eingetaucht. Aber nur ganz kurz. Dann ging mir die Luft aus. Nun bleibt nur der Hauch oder die Ahnung von einer anderen Hemisphäre.
Eigentlich war es nur ein nerviger Wochenendeinkauf in einem Supermarkt. Aber nicht in meinem Stamm-rewe, sondern in einer Filiale nicht an meinem Wohnort, sondern in einem kleinen Ort unterwegs, denn ich war auf dem Rückweg von einer kleinen Wochenendreise und noch lustloser, als ich es ohnehin immer beim Wochenendeinkauf bin. Es konnte mir gar nicht schnell genug gehen.
Als ich aus dem „Tee- und Kaffee“-Gang in den Hauptgang einbog, blieb die grelle Supermarktwelt einen Moment lang stehen, denn vor mir stand … eine Person. Nein, es waren eigentlich sogar zwei Personen, aber diejenige, die mich sofort in ihren Bann zog, war diese junge Frau. Sie war nicht nur für ländliche Verhältnisse ungewöhnlich gekleidet – sie trug, farblich und vom rostroten Ornamentik-Muster her perfekt aufeinander abgestimmt, eine Art bodenlangen, cremefarbenen Kaftan mit einer gleichfarbigen langen Schärpe, die bis zum Boden reichte. Ihre Schuhe steckten in offenen, ebenfalls cremefarbenen Sandalen mit hohen Absätzen (und sie trug, nebenbei bemerkt, weder Kopftuch noch Schleier). Sie wirkte hier in diesem Samstagsprovinzsupermarkt wie ein Wesen von einem anderen Stern.
Aber all das war nicht das, was mich an ihr so faszinierte. Es waren ihre Hände. Beide Hände waren mit den schönsten und filigransten Henna-Tattoos bedeckt, die ich jemals auf Bildern, geschweige denn in echt, gesehen hatte. Und deshalb starrte ich gebannt darauf, was den beiden (die andere Person war ein etwa gleichaltriger Mann ähnlich getönter Hautfarbe) nicht verborgen blieb.
Der Mann sprach mich an, indem er in freundlichem Ton irgendetwas wie „Stimmt was nicht?“ oder „Was ist denn (los)?“ fragte. Ich wurde (sicherlich) rot vor Scham, fühlte mich irgendwie ertappt und antwortete – stattdessen der Frau – nicht besonders souverän: „Oh … ähm … entschuldigen Sie … ich wollte Sie nicht so anstarren, aber Ihre Hände … sind einfach so schön!“
Der Mann übersetzte der Frau in einer Sprache, die ich nicht verstand und nicht einmal erkannte. Über beider Gesichter ging ein Leuchten – fast schon Strahlen. So eine Begegnung hatten sie vermutlich auch nicht in einem Provinz-Supermarkt erwartet.
„Do you like it?“, fragte mich die junge Frau auf Englisch.
„Oh yes!, very much!“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
… und dann passierte etwas, was man normalerweise in dieser etwas „verstockten“ Gegend von Deutschland nicht erwartet oder sonst nie erlebt, zumindest nicht mit den „Einheimischen“.
„Das ist meine Frau!“, stellte mir der Mann, jetzt wieder auf Deutsch, die orientalische Schönheit vor.
Die Frau sah mich an und sagte etwas in ihrer mir fremden Sprache.
„This is Henna“, erklärte mir der Mann, nun wieder zurück auf Englisch. „Do you know Henna?“
„Yes, I do!“, sagte ich. „From dying my hair when I was young.“
Und Henna-Tattoos kannte ich auch aus Madonnas „Frozen“-Video von vor über 20 Jahren …
Die Frau sagte wieder etwas zu ihm und blickte mir dabei offen und selbstbewusst in die Augen;
sie war alles andere als „verhuscht“, nur fehlten uns die gemeinsamen Welten, Worte und Wörter.
„Sie möchte Ihnen gern so ein Tattoo machen!“, übersetzte der Mann.
Ich verstand nicht ganz, wie das gehen sollte – außerdem war ich von so viel Freundlichkeit und Spontaneität überwältigt.
„Did you do these yourself?“, fragte ich sie stattdessen direkt auf Englisch.
Sie verstand und nickte heftig.
„Ja, die macht sie selbst!“, wiederholte der Mann und erklärte: „Wissen Sie, sie ist gerade eben erst aus <beep> angekommen und zum allerersten Mal in Deutschland.“ (Das konnte auf ihn allerdings nicht zutreffen, denn sein Deutsch war ziemlich gut.)
„Das Problem ist, sie hat ihren Koffer noch nicht ausgepackt im Auto liegen. Da hat sie ,welche‘ drin. Wir kommen direkt vom Flughafen. Aber wenn Sie ein bisschen warten und etwas Zeit haben, dann kann sie Ihnen ein Henna-Tattoo machen.“
„How much would that be?“, fragte ich mit automatischer, mitteleuropäisch-interkultureller Inkompetenz, aber das war meiner Überraschung und irgendwie auch Beschämung über so viel Offenheit geschuldet.
„No, no!“, protestierte die Außerirdische, und ihr Mann ergänzte: „Nein, nein! Das würde sie Ihnen gern schenken!“ Ich hatte kurz Gelegenheit, ihn unauffällig zu taxieren. Er war unwesentlich älter als seine Frau, so Anfang/Mitte 30, gut und teuer gekleidet in eine trotz der sommerlichen Wärme hellen Anzughose und ein weißes Hemd. Seine dunklen Haare waren ge-gelt und somit leicht ölig, was mir spontan nicht so gut gefiel, aber ich hatte nicht viel Zeit, ihn näher zu mustern, ohne dass es unhöflich geworden wäre.
Plötzlich und schlagartig wurde mir das alles zu viel, zu nah, zu eng, zu privat, … Die ganze Situation wurde mir von einer Sekunde auf die andere unbehaglich – und schlicht “too much“; ich konnte sie nicht handlen … und wollte auch nicht länger bleiben. Immerhin fand ich zu meiner Höflichkeit zurück.
„No, no, thank you very much. That’s very kind. But I do not have the time to wait.“
Die beiden waren aber nicht davon abzubringen, es noch ein weiteres Mal zu versuchen, doch ich lehnte dankend, aber deutlich ab, wenn auch in einer Weise, die ich auch nach 1x-drüber-Schlafen noch okay fand:
„Thank you so much! But anyway, it is the thought and the idea that counts!“
Damit gingen wir unserer Wege. An zwei nebeneinander liegenden Kassen trafen wir wieder aufeinander, aber ich war immer nur – warum eigentlich?! – ein wenig „peinlich“ (und) „berührt“, sodass ich mich sicherheitshalber mit gesenkten Lidern auf meinen Wareneinkauf und den Bezahlvorgang konzentrierte. Im Augenwinkel sah ich, dass direkt mir gegenüber das Paar noch einmal vorsichtig meinen Blick suchte.
Beim Herausgehen sah ich die in jeder Hinsicht „frisch gelandete“ Frau nochmals an den automatischen Supermarkttüren stehen. Sie tippte auf ihrem Smartphone, sah aber kurz auf, als ich an ihr vorbeiging. Wir winkten uns nochmals zu – und dann war dieser kleine magische Moment, den ich nicht hatte verlängern wollen, auch schon vorbei.
Ich stieg ins Auto und sah den Mann noch am offenen Kofferraum seines Wagens stehen. Es war ein großer, nicht ganz neuer Mercedes mit einem deutschen Kennzeichen aus <beep>, der Stadt, in der wir uns gerade befanden.
Der kleine “magic moment“ in überaus profanem Umfeld ist nun “frozen“, und meine Hände, die nicht das Schönste an mir sind, blieben untätowiert. Doch die Spur einer fremden Welt ist geblieben.