Eigentlich denke ich mir meine Geschichten ja lieber selber aus, obwohl ich natürlich weiß, dass es doch angeblich das Leben ist, das die besten Geschichten schreibt.
In meiner Handtasche liegt ein gelbes Notizbuch mit der Aufschrift: Diplomaten ärgern sich nie. Sie machen sich Notizen. (Maurice de Talleyrand-Périgord). Ich werde ein andermal googlen, wer Monsieur de Talleyrand-Périgord ist; ich vermute, es handelt sich um den französischen Politiker, von dem ich schon einmal – war es im Zusammenhang mit der Französischen Revolution?! – gehört habe, und ich gehe außerdem davon aus, dass seine Beobachtung auch für „Diplomatinnen“ gilt.
In diesem Sinne erzähle ich jetzt einfach mal anhand meiner Erinnerung (denn Notizen habe ich keine gemacht), was innerhalb von nur ca. 24 Stunden passiert ist und worüber man sich zumindest in Teilen hätte ärgern können. Aber „wundern“ ist verträglicher als „ärgern“ – und ist auch immer noch erlaubt.
Zur besseren Einordnung des Folgenden muss ich vorausschicken, dass ich ein etwas kompliziertes Leben führe. Ich wohne in der Kleinstadt A in der Nähe der unwesentlich größeren Kreisstadt B. Arbeiten tue ich aber im Großraum der nahezu Millionenstadt C, die eine dreistellige Anzahl von Kilometern entfernt ist von B und von A. Ich stamme aus der Großstadt D, in der ich mich immer noch aus beruflichen und privaten Gründen häufig aufhalte. Eine Weile gelebt und auch gearbeitet habe ich unter anderen in den Großstädten E und F, von denen mindestens eine ebenfalls eine Millionenstadt ist. Ich darf mich also guten Gewissens als „Vielreisende“ bezeichnen, zumal ich nun seit mehreren Jahren berufsbedingt zwischen A und C und manchmal auch D pendele und regelmäßig Dienstreisen nach E und F oder auch G bis Z unternehme. Insofern habe ich, auch ganz undiplomatisch, das Mich-Ärgern und sogar Wundern fast schon verlernt, aber manchmal gibt es Tage und Erlebnisse, über die kann man sich nur wundern, damit man sich nicht ärgert.
Ich beginne meine beruflich motivierte Fahrt von C nach D an einem Donnerstagnachmittag im September. Der Hauptbahnhof von C wird gerade zum so-und-so-vielten Male saniert und ist ein unter- und überirdischer Irrgarten aus Absperrungen, Planen, Wegweisern und provisorischen Zäunen. Ich bahne mir einen Weg durch dieses Labyrinth und begegne, selbst für die mir vertrauten hiesigen Verhältnisse, unverhältnismäßig vielen Menschen, die man politisch inkorrekt als „Kaputte“ bezeichnen könnte: offensichtlich Drogenabhängige und/oder Alkoholisierte, abgerissene „Gestalten“ und verkrachte Existenzen, die durch die vorläufigen Gänge huschen und im milchigen Schein der Baustellenbeleuchtung noch unwirklicher erscheinen als bei Tageslicht. Eine der „Nachtgestalten“ in dieser unwirklichen Szenerie der unterirdischen Baustellengänge kommt taumelnd und, offenbar aus anderen Gründen als ich, orientierungslos auf mich zugewankt.
Obwohl ich instinktiv und vorsorglich zur Seite ausweiche, streift das durch eine tief ins Gesicht gezogene Kapuze nahezu gesichtslose Wesen mit seinem rechten Arm meine schwarze Reisetasche, die ich wie ein Schutzschild zwischen uns beiden über der Schulter trage. Unwillkürlich weiche und zucke ich noch weiter zurück an die provisorische äußere Wand aus Planen, raffe die Tasche an mich und laufe schnellen Schrittes weiter durch die spärlich beleuchteten Gänge.
Schließlich habe ich das Gleis meines ICEs erreicht und finde im bereits wartenden Zug einen Platz, was angesichts der „mittleren Auslastung“, die zutreffend prognostiziert worden war, keine Umstände bereitet. Nicht nur die Anzeigen der Sitzplatzreservierungen sind noch vorläufig, auch die Anzeige des Fahrtziels ist, abweichend von der auf dem Bahnsteig und in der Bahn-App, noch unentschlossen und schwankt im Zug selbst zwischen einer weiteren Großstadt (es handelt sich um F-Stadt, die ich aber geografisch in der umgekehrten Fahrtrichtung weiß) und einer Stadt, die als Endziel des Zuges passen könnte, wenn man, wie ich, nach D-Stadt möchte. Ebenfalls verunsicherte Mitreisende versichern einander wechselseitig, dass sie im richtigen Zug sitzen, als ob hier das Einfach-nur-genug-Wünschen helfen könnte.
Die Türen des Abteils öffnen sich und herein kommt eine noch recht junge Frau, die eine große Tasche mit sich führt und bis auf die Rauchfahne, die sie schon von weitem umgibt, nichts Auffälliges oder Unangenehmes an sich hat. „Entschuldigen Sie bitte“, spricht sie eher undifferenziert die Anwesenden an. „Ich habe nicht so viel Bargeld dabei, und mir fehlen noch 12 EUR für mein Ticket. Hätte jemand von Ihnen vielleicht …?!“ – Noch bevor die Frau ihre Frage zu Ende sprechen kann, fällt ihr die neben mir sitzende Frau brüsk ins Wort: „Sorry, aber *den* Trick kennt mittlerweile wirklich jeder!“
Während ich noch darüber nachdenke, dass die angefragten 12 EUR doch eine stattliche Zahl sind, die, seit ich das letzte Mal mit dieser Frage konfrontiert wurde, offenbar um ein Vielfaches gestiegen ist (Inflation und Tariferhöhungen also auch auf diesem Sektor), hat die junge Frau schon eine Entgegnung parat: „Nein, das ist kein Trick!“ Sie kramt in ihrer Tasche und zieht ein abgewetztes ledernes Portemonnaie hervor, das wohl einmal braun gewesen ist. „Hier! Mein Portemonnaie! Sie können gerne reingucken!“
Ich muss fast lachen bei so viel Naivität und Glaube an die Dummheit der Mitmenschen und schalte mich, auch im Namen meiner Sitznachbarin, ein: „Und was genau hätte man davon, wenn man in Ihr leeres Portemonnaie guckt? Dass es leer ist, daran hatten wir eigentlich keinen Zweifel …“
Das wird der im Gang stehenden Frau nun doch zu viel, sie sieht ein, dass sie hier keinen Boden mehr gutzumachen hat und geht ihres Weges durch das Abteil, ohne nochmals jemanden um Geld zu fragen. Meine eben noch so erbarmungslose Mitreisende entwickelt nun mehr Mitgefühl als ich und sagt kopfschüttelnd: „Ich hoffe, ich komme niemals in meinem Leben in eine Situation, dass ich so etwas tun muss.“ Damit hat sie natürlich vollkommen recht, und wir sitzen eine Weile schweigend und betroffen da, bis sich der Zug endlich in Bewegung setzt. In Bewegung bleibt er auch, sodass ich einigermaßen störungsfrei an meinem Zielbahnhof in D ankomme. Dass zwischenzeitlich über Lautsprecher verkündet wurde, dass dieser Zug aufgrund eines kurzfristigen Personalausfalls leider über keinen gastronomischen Service verfüge, ist ebenso eine Randnotiz wie der Umstand, dass die einzige Toilette, die im näheren Umkreis nicht als „Defekt“ markiert und verschlossen wurde, leider über kein Wasser am Waschbecken verfügt, aber das sind unwesentliche Details, an die man sich als Vielreisender längst gewöhnt hat.
Der zufällige Querschnitt durch die Bevölkerung oder zumindest durch die im und um den Hauptbahnhof herum Anwesenden ist in etwa der gleiche wie vor kurzem an meinem Ausgangsbahnhof in Stadt E, nur dass sich hier in D-Stadt die gestrandeten Personen aller Provenienzen nicht überwiegend im Gebäude, sondern auf dem Bahnhofsvorplatz aufhalten. Der große Unterschied ist allerdings, dass ich mich jetzt und hier in meiner früheren Heimatstadt befinde, die ich noch anders in Erinnerung habe und dass mir alles, was ich hier an doch eigentlich Ungeheuerlichem sehe, schlicht mehr auffällt und ausmacht als in jeder anderen Stadt.
Unter den Szenen, die sich den Ankommenden in dieser Stadt, die s/ich mal für wohlhabend und chic gehalten hatte, bietet, greife ich nur zwei heraus, an die ich mich noch besonders erinnere. Unmittelbar vor den Glastüren des Haupteingangs vollführt ein schäbig gekleideter, mittelalter Mann ohne Schuhe, den man anhand seiner Physiognomie relativ zweifelsfrei als Syrer oder Iraker identifizieren kann, völlig selbstvergessen und entrückt Tai-Chi-artige Bewegungen, die sich bei näherem Hinsehen als die Simulation von Kampfhandlungen herausstellen. Dabei stößt er in unregelmäßigen Abständen zischende aggressive Laute aus. Außer mir scheint das niemandem aufzufallen, geschweige denn zu interessieren. Also gehe auch ich äußerlich ungerührt weiter und stoße auf einen oberflächlich unauffällig wirkenden Mann, der in einer vollen Mülltonne wühlt. Ob man sich nach all den Jahren, die man im Müll nach etwas Verwertbarem suchende Menschen nun schon, vorzugsweise an Bahnhöfen, beobachten kann, an den Anblick gewöhnt hat, kann ich in diesem Moment nicht sagen. Was mir aber auffällt ist, dass er dabei eine Technik anwendet, die mir bisher noch nicht unter die Augen gekommen war. Statt durch den Einwurfschlitz mühsam nach Brauchbarem zu stochern, hat der Mann kurzerhand fachgemäß den schweren Deckel des Müllbehälters entfernt, ganz so, als wolle er gleich die ganze Abfalltonne abtransportieren und ihren Inhalt in den Schlund der Trommel eines Müllwagens schütten. Welcome to hard times.
Bis zu meinem abendlichen Termin in D habe ich noch Zeit, und der Weg dorthin ist überschaubar weit. Also beschließe ich, in der City noch einen Kaffee trinken zu gehen. Ich stelle mich an die mir noch aus meiner langen Zeit in dieser Stadt vertraute Haltestelle und warte auf eine Bahnlinie, die es so damals noch nicht gab. Die Haltestelle ist gut bevölkert, was um diese Uhrzeit an einem Donnerstag im Spätsommer nicht weiter überraschend ist. Auch nicht weiter überraschend ist die offensichtliche Tatsache, dass ich unter den Wartenden bzw. Anwesenden die einzige Person mitteleuropäischer Herkunft bin (von der Verengung auf „deutscher Herkunft“, die hier ohnehin auch nichts zur Sache tut, will ich gar nicht erst ausgehen oder sprechen).
Eine Bahn fährt ein, aber es ist noch nicht die, die ich Richtung City nehmen muss. Die Türen öffnen sich mit dem typischen Zischen, und der Umstand, die einzig anwesende Mitteleuropäerin zu sein, ändert sich, vermeintlich, schlagartig in Gestalt einer weiblichen Person, die der Bahn entsteigt und sofort meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es handelt sich um eine blonde oder eher stark blondierte Frau, die vermutlich nur unwesentlich älter ist als ich, aber so verbraucht und mitgenommen und von-was-auch-immer zugedröhnt aussieht, dass sie locker um die 70 und älter und frisch – sofern dieses Wort überhaupt auf sie anwendbar ist – vom Straßenstrich sein könnte. Sie ist stark, geradezu übertrieben geschminkt, und ihre Lippen sind knallrot von Lippenstift in einer Leuchtkraft, die für diese Uhrzeit viel zu grell ist. Ansonsten ist die Frau komplett in Babyrosa gekleidet. Sie trägt ein sehr knappes rosa Oberteil mit tiefem Ausschnitt und Ausblick auf ein faltiges Dekolleté und einen kurzen, ebenfalls babyrosa Minirock. Zwischen dem hohen Saum des Minirocks und denen der rosa Netzstrümpfe – und wenn ich „Strümpfe“ sage, dann meine ich tatsächlich: Kniestrümpfe – sind spindeldürre Beinchen und unendlich faltige Knie zu sehen. Die Schuhe der Frau stecken in rosa Lack-Highheels, was auch insofern bemerkenswert ist, als dass sie sich krampfhaft an einem – allerdings schwarzen – Rollator festhält, mit dessen Hilfe sie mühsam und stolpernd die Schwelle zur Plattform überwindet. Als sie an mir vorbeischwankt, höre ich, dass sie in einer nicht definierbaren osteuropäischen Sprache den immer gleichen, mir allerdings unverständlichen Satz vor sich hin brabbelt.
Während ich noch immer auf meine Bahn Richtung Innenstadt warte, erscheint ein mittelalter bis älterer, braungebrannter Mann, dessen Füße in heruntergetretenen Sandalen stecken. Doch das ist nicht das eigentlich Besondere an seinen Füßen. Sie sind beide verwaschen schwarz bis zu den Knöcheln, und es ist nicht erkennbar, worum es sich bei der Schwärze genau handelt. Sind es zusammenhängende Tattoos?! Ist das ein besonders dunkles Henna?! Aber warum sollte man sich Henna auf die Füße schmieren? Oder ist es schlicht der Dreck der Straße, der sich hier seit langem angesammelt hat? Unabhängig davon ist der Mann bei seinem unaggressiv-freundlichen Betteln äußerst erfolgreich. Schon hat er den ersten Geber überzeugt, was vielleicht auch daran liegt, dass er aussieht wie ein alter Grieche mit wallenden, von grauen Fäden durchzogenen Locken. Auch sein Akzent könnte Griechisch sein; ich vermute aber eher etwas mir unbekanntes Osteuropäisches. Der mit Kopfhörern abgeriegelte Geber, der, kaum darauf angesprochen, auch schon sein Portemonnaie zückt und dem Anfragenden eine Silbermünze überreicht, wiederum ist in einer Art „Westernlook“ gekleidet, trägt Stiefel mit entsprechenden Stickereien und hat silberne Ketten und einen Totenkopf-Anhänger um den Hals hängen, hat aber, was so gar nicht dazu passen will, eine stinknormale Aktentasche dabei, sodass zu vermuten ist, dass er einer geregelten Arbeit nachgeht. Die beiden Männer unterhalten sich angeregt und bereichsübergreifend über die berufliche Tätigkeit des Gebers; ich spitze die Ohren, kann aber nicht heraushören, in welcher Branche der verhinderte Cowman sein Geld verdient. „Der Grieche“ hat zwar keine Kette um den Hals hängen, dafür aber ein vergilbtes Lanyard, in dessen Plastikhülle ein Deutschlandticket zu sehen ist.
Wenig später wird ein auffallend gut gekleideter, vermutlich arabischer Geschäftsmann „dem Griechen“ hinterherlaufen um ihm auf den letzten Metern wohin-auch-immer noch einen Geldschein in die Hand zu drücken. Der Schein ist klein und grünlich.
Ein neben mir im Wartehäuschen auf einem der vier Drahtstühle sitzender älterer Mann, den ich für einen Pakistani oder Inder halte, seufzt und sagt in einer Mischung aus Resignation und Verwunderung: “Germany is crazy!“ – Dem habe ich nichts, aber auch gar nichts hinzuzufügen oder gar entgegenzusetzen, muss ich aber auch nicht, weil nun, während unter ohrenbetäubendem Sirenengeheul ein großer Krankentransporter Richtung Bahnhofshaupteingang fährt, meine Bahn einrollt. ,Ob der den Luftgewehr schwingenden Einzelkämpfer abholen kommt?‘, frage ich mich noch beim Einsteigen, aber der war ja wohl nach heutigen Maßstäben noch selbst transportfähig, und außerdem hätte ich auch gar nicht gewusst, wohin man ihn denn bringen sollte.
Auf halber Staßenbahnstrecke zu meinem abendlichen Ziel steige ich aus, um in einem an eine Bahnhofshalle erinnernden Gebäude einen Kaffee trinken. Der Weg zu diesem Zwischenziel hat mich durch Straßen geführt, die mir aus meiner Kindheit und Jugend sehr vertraut sind, und die auch damals nicht als „gute Gegend“ galten. Doch mittlerweile ist die breite Durchgangsstraße gesäumt von Billigläden und zweifelhaften Etablissements, aus denen, am helllichten Tage, zwielichtige und „dunkle“ Gestalten jedweden Geschlechts und jedweder Herkunft entsteigen, die sich Fellini, Fallada oder Fritz Lang nicht besser hätten ausdenken können. Unwillkührlich steigen in mir verschwommene Schwarzweiß-Bilder und Vorstellungen von den 1920er und 30er Jahren auf, die ich natürlich nicht selbst erlebt habe, aber aus zahlreichen zeitgenössischen und auch späteren Filmkulissen und von alten Fotos kenne.
Im Café schüttele ich diese Vorstellungen mühsam ab und schütte ich ebenso freudlos den schlechten Milchkaffee herunter, den ich auch gleich bezahle, damit ich mich jederzeit wieder aus der Lokalität entfernen kann, ohne auf den widerwillig agierenden Kellner warten zu müssen. Arbeiten kann ich hier ohnehin nicht, denn WLAN gebe es nicht, wird mir gesagt, und das free WiFi der gegenüberliegenden Supermarktkette lässt sich zwar mit meinem Tablet anwählen, bietet dann aber keine Internetverbindung. Bevor ich das Etablissement verlasse, gehe ich hier aber noch zur Toilette, auch, weil ich mich nun allmählich für den offiziellen Termin am Abend umziehen möchte.
Zwischen den beiden Toilettenräumen für Herren links und Damen rechts gibt es einen kleinen gemeinsamen Vorraum, in dem ein kleiner weißer Tisch aufgebaut ist, auf dem ein fast leerer Teller mit etwas Kleingeld liegt. Hinter dem Tisch steht eine sehr große und breite Person, die ich auf den ersten Blick nicht als eindeutig männlich oder weiblich identifizieren kann.
„Wie viel bekommen Sie denn?“, frage ich die Person, deren Augen, die mir tieftraurig erscheinen, dunkel und deren Haut tiefschwarz ist.
„Was du willst geben“, ist die Antwort, anhand derer ich am Klang der angenehmen Stimme zu erkennen meine, dass es sich um eine Frau handelt, für die die deutsche Sprache ein so scheußliches Wort wie „Clofrau“ zur Verfügung stellt.
„Ich gebe Ihnen einfach alles, was ich an Kleingeld habe“, sage ich, eisern beim respektvollen Sie bleibend, und genau das tue ich auch. Einige größere und kleinere Münzen purzeln aus dem Münzfach meines Portemonnaies zu den wenigen auf der aufgestellten Untertasse.
„Oh, danke!“, sagt die Frau erfreut und lacht mich an. Noch auf dem Gang zu den Toilettenkabinen holt sie mich ein und weist mir den Weg zurück zu einer Tür direkt gegenüber des kleinen Tisches.
„Du geh hier“, sagt sie ebenso freundlich wie bestimmt, „mehr Platz!“
Es handelt sich um die Unisex-Behinderten-Toilette, und ich bin dankbar für deren Größe, weil sie mir ja zugleich als Umkleidekabine dient, und ich frage mich, woher die Frau das denn ahnen konnte.
Ich tausche Jeans und T-Shirt gegen eine Bluse und einen dunkelblauen, eng geschnittenen Nadelstreifenanzug, und statt der Sneakers schlüpfe ich nun in hochhackige, unbequeme Pumps.
Als ich die Behindertentoilette verlasse, habe ich meine Reisetasche und die Handtasche über dem einen Arm und die Jacke über dem anderen, in der linken Hand halte ich die nicht mehr ganz sauberen Sneakers und weiß nicht so recht, wohin damit.
Die aufmerksame Frau im Sanitärbereich nimmt drei weiße Rollen Toilettenpapier aus einer großen Plastikverpackung und reicht mir ungefragt diese Tüte für meine Schuhe. Einen kurzen Moment lang blicken wir uns in die Augen und scheinen beide das stillschweigende Einverständnis und die wechselseitige Sympathie zu genießen.
„Dankeschön! Und auf Wiederseh’n!“, sage ich und meine beides so, wie ich es sage.
Auf meiner letzten Etappe zum abendlichen Termin muss ich, bei bestem Spätsommerwetter, noch ein paar kurze Wege mit der Bahn und zuletzt zu Fuß zurücklegen. Währenddessen überlege ich, ob ich denn nicht nachher in der offiziellen Runde eine Wortmeldung abgeben sollte, die den Rahmen des Themas des heutigen Abends, das nur vordergründig ein anderes ist, sprengt, einfach nur, weil ich auf dem Weg hierher so vieles gesehen und gehört habe, über das es sich doch viel mehr lohnen würde zu sprechen als über das laut Plan vorgesehene Thema, obwohl auch dieses durchaus von gesellschaftlicher Relevanz ist.
Hier in der von den allgemeinen Begleitumständen bevorzugten Gegend, in der mein geschäftlicher Termin in einem architektonisch reizvollen offiziellen Gebäude stattfindet, zeigt sich meine ehemalige Heimatstadt angeberisch von ihrer besten Seite. Der kurvige, große und breite Fluss schimmert im milden Licht des spätsommerlichen Sonnenuntergangs, große Kähne schippern und gut gekleidete Menschen flanieren an mir vorbei; die rötliche Sonne taucht die ganze Szenerie in sanftes Licht und bekömmliches Leuchten.
Als ich eine dunkle Limousine und darin einen männlichen Passagier in einem dunkelblauen Anzug, der sich später als einer der Hauptredner bei der anstehenden Abendveranstaltung herausstellt, lautlos an mir vorbeigleiten und in die Auffahrt der Tiefgarage einschwenken sehe, wird mir klar, dass er und ich zwar anschließend dieselbe Veranstaltung besuchen werden, der herausgeputzte Mann, dem das zweifelhafte Treiben und die Erfahrungen zweier Großstadtbahnhöfe erspart bzw. vorenthalten geblieben sind, aber einen gänzlichen anderen Eindruck des heutigen Tages und, im übertragenen Sinne, des Zustands des Landes gewinnen wird als ich.
Ich beschließe, es von der Situation und dem Verlauf des Abendprogramms abhängig zu machen, ob ich meine Niedergangsfantasien thematisieren soll, doch es werden sich im Folgenden, wie ich finde, keine Anlässe ergeben, die eine solche Planänderung vorsehen oder nahelegen.
Dennoch mache ich eine Wortmeldung, die aus zwei Teilen besteht. Der erste, kürzere Teil ist eine spontane Reaktion auf meinen Vorredner und wird von einem der Experten auf dem Podium später wörtlich aufgegriffen; den zweiten, längeren Redebeitrag habe ich mir zuvor, im ICE, schon zurechtgelegt und mehr oder weniger ausformuliert. Ich fand ihn in Teilen nicht ganz unheikel und wundere mich deshalb über den kleinen Szenenapplaus, der hinter mir aufbrandet.
Der Rückweg zu meiner Übernachtungsstätte verläuft weitgehend unspektakulär. In großen Städten ist es so, dass man abends ab einer gewissen Uhrzeit nur noch vorn in Busse einsteigen darf und dabei dem Busfahrer unaufgefordert das Ticket zeigt. Ich habe wieder die zwei schweren Taschen überm Arm und auch die Jacke, weil es noch immer ungewöhnlich warm für diese Zeit des Tages und des Jahres ist. Der Busfahrer sieht mir ins Gesicht und winkt ab, als ich ihm anbiete, dass ich erstmal meine Sachen ablege und ihm dann erst mein Ticket präsentiere.
„Isch kenne disch persönlisch“, sagt er mit einem charmanten Akzent, der offenbar kein „-ch“ kennt und mich an die spanische Sprache erinnert, was auch von der Optik des Mannes her hinkäme.
„Oh, das ist aber nett!“, antworte isch dankbar und ruhisch, in der angenehmen Gewissheit, dass ich tatsächlisch über ein gültisches DB-City-Ticket verfüge, das isch jederzeit auf dem Händy aufrufen könnte.
In der ersten Reihe gleich hinter dem Fahrer sitzt ein junger Mann, der sich nicht mehr einkriegt vor Lachen, denn natürlich ist auch ihm klar, dass es faktisch unmöglich ist, dass der Fahrer und ich uns tatsächlich persönlich kennen. Und doch möchte er sich dessen vergewissern.
„Sie kennen sich aber nicht wirklich, oder?“, fragt er zwischen zwei weiteren Lachanfällen.
„Nein, natürlich nicht“, antworte ich wahrheitsgemäß, „aber ich glaube, wir haben uns auf Anhieb erkannt.“ Das versteht der junge Mann nicht auf Anhieb, aber es gibt ihm immerhin zu denken, und die Lachsalven hören daraufhin schlagartig auf.
Als ich an der nächsten Station aussteige, überlegt er noch immer, und ich winke sowohl ihm als auch dem klugen und gütigen Busfahrer zum Abschied von draußen zu, was beide heftig erwidern.
Der Tag neigt sich dem Ende entgegen und hält zumindest für mich keine Überraschungen oder Ereignisse mehr bereit. Ich bin müde und übervoll mit Eindrücken und kann mir, als ich schließlich im Bett liege, kaum vorstellen, dass der nächste Tag ebenso intensiv werden könnte. Doch ich sollte mich, wie nicht zum ersten Mal heute, irren.
— to be continued; Tag 2 is yet to come … —