An dieser Stelle könnte die Geschichte eigentlich zu Ende sein, weil sie ja einseitig und mutwillig vom besten Nebendarsteller abrupt beendet wurde, noch bevor sie wirklich wieder beginnen sollte.
Bianca könnte sich eine Weile wundern, ärgern oder schämen. Wundern über die wechselwarme Unberechenbarkeit ihres Gegenübers. Ärgern, dass er sie einfach so kaltgestellt hat, nachdem sie gerade dabei gewesen waren, sich für einander zu erwärmen. Schämen, weil sie sich ein Stück weit auf ihn eingelassen und sich geöffnet hat. Und sie könnte wilde Vermutungen anstellen, warum er plötzlich „kalte Füße bekommen hat“, falls das überhaupt der Grund für seinen Abbruch war.

Aber sie tut nichts von alledem. Weil sie es nicht möchte. In der kurzen, aber intensiven gemeinsamen Zeit damals wie heute war er nicht nur gut zu ihr, sondern auch gut für sie gewesen. Er hat ihr, beim ersten Mal mehr Mädchen als Frau, die Tür zu einem guten und gelungenen Leben „als Frau“ aufgestoßen. Sie durfte einen Übergang vom Mädchen zur Frau erleben, den man sich besser kaum wünschen kann – mit einem Mann, in den sie seiner- und ihrerzeit verliebt genug war und mit dem sie es genau so wollte.

Bianca macht also ihren Frieden mit dem plötzlichen Abbruch der diplomatischen Beziehungen und mit der Tatsache, dass er sie nun schon zum zweiten Mal „kalt abserviert“ hat.
Aber sie hatte eh nicht vorgehabt zu versuchen, in seine jahrzehntelange Beziehung einen Keil zu treiben. Ebenso wenig hatte sie ernsthaft erwogen, ihre eigene, ebenfalls langjährige und weitgehend intakte Beziehung aufs Spiel zu setzen. Und ganz sicher hätte sie keine Lust gehabt, bei zwei erwachsenen Jungs die „coole Stiefmutter“ zu spielen, geschweige denn, eine hektische und strapaziöse Affäre anzuzetteln.

Als ich sie ein paar Tage nach seiner letzten WhatsApp-Nachricht treffe, wirkt sie fröhlich und ausgeglichen auf mich. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, sie nicht darauf anzusprechen, aber jetzt tue ich es doch, gerade weil sie auf mich so ruhig und so völlig mit sich im Reinen wirkt.

      „Na, alles klar?“, frage ich offen und unverbindlich. — „Ja, soweit …“, sagt sie gedehnt und bedeutungsvoll.
     „Ich mein‘ jetzt …“ — „Ja, ich weiß schon, was du meinst“, unterbricht sie mich. „Nein, das ist wohl vorbei. Aber … alles gut!“

Ja, es scheint tatsächlich „alles gut“ zu sein, obwohl es das doch faktisch niemals ist. Trotzdem frage ich, fast pro forma, nach: „Und ist das okay so für dich?“
     „Ach, weißt du“, sagt sie, „ich würde mir so sehr wünschen, dass ich diesen Mann jetzt vorsichtig zurück in seine Pappbox legen darf und den Deckel wieder draufmachen kann. Ich möchte einfach jederzeit wissen, wo er ist und wo ich ihn finden könnte, wenn ich es wollte. Das wäre … perfekt.“

Jetzt seufzt sie doch ein bisschen, denn sie weiß oder glaubt zu wissen, dass gerade das etwas ist, was ihr „dieser Mann“ offenbar weder erlauben noch ermöglichen will, warum auch immer.

Die Geschichte ist nicht ganz zu Ende. Am selben Abend trifft Bianca ihre Nachbarin vor der Haustür. Die Nachbarin hat Tränen in den Augen.
     „Was ist denn los?“, fragt Bianca mitfühlend und meint ein bisschen auch sich selbst damit.
     „Ach, Bianca“, sagt die Nachbarin mit dumpfer Stimme, „der Sammy ist gestorben.“

Auch das noch! „Der Sammy“, das ist ihr dicker, roter Kater, der bei Bianca ein gern gesehener Gast gewesen war und bei ihr ungeniert ein und aus gegangen war, wie es ihm passte. Er holte sich seine Streicheleinheiten, schnurrte, fraß ein paar Delikatessen, die er zuhause nicht angeboten bekam, und ging dann seiner Wege, sobald er von beidem – und von ihr – genug hatte.
Bianca hatte noch nie in ihrem Leben ein Haustier gehabt, und Sammy war mit Abstand das Tier auf der Welt, für das sie am meisten empfand. Empfunden hatte. Nein, soweit war und ist sie noch nicht. Die Empfindung ist ja noch da, obwohl das dazugehörige Tier jetzt tot sein soll.

Bianca weiß nicht wirklich, was sie der Nachbarin und sich selbst Tröstliches sagen könnte in diesem Moment. Sie murmelt etwas, was wie „Tut mir leid!“ klingt und absolut den Tatsachen entspricht. Dann zieht sie ihren Hausschlüssel aus der Tasche und verschwindet hinter der Eingangstür.

Jetzt nähert sich die Geschichte dem vorläufigen Ende. Während sie sich ein leichtes Abendessen zubereitet, muss Bianca nochmal daran denken, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn es zu jener Zeit vordergründig oder vorläufig ein Happy Ending mit ihrer ebenso ersten wie großen Liebe gegeben hätte.
Es liegt in der Natur der Sache, dass sie darüber andere große und auch kleine Lieben, die erst später im Leben kamen, verpasst – und vielleicht auch unterschwellig vermisst – hätte. Und tatsächlich hat sie die „Liebe ihres Lebens“ ja erst später im Leben getroffen und als solche erkannt.
Zweifellos wäre sie seltener umgezogen und hätte, aus dem Beispiel der immer noch amtierenden Ehefrau abgeleitet, nur 1x im Leben einen – dafür aber ziemlich einschneidenden – Ortswechsel vollzogen.
So war ihr Leben zwar unruhiger, aber … das kann sie natürlich nur vermuten … spannender und aufregender gewesen. Die „erste große Liebe“ ist und bleibt, wenn sie zugleich die letzte ist, das Maß aller Dinge, der einzige Anhaltspunkt, an den man sich in Liebesdingen halten kann.
Diese eine Liebe, zumindest mal die zwischen Mann und Frau, wird als feste Größe personifiziert durch den einen, ersten und einzigen Menschen. Das ist eine seltsame Vorstellung, die Bianca weder mit Wut, noch mit Enttäuschung, noch mit Ernüchterung erfüllt. Vielleicht hätte sie – vorausgesetzt, der dazugehörige Mann hätte ihre Gefühle in dem Maße geteilt und erwidert – ein gar nicht mal so schlechtes Leben an seiner Seite geführt, aber … es wäre vermutlich ein Leben in seinem Schatten und sicherlich nicht *ihres* gewesen.

Bianca findet auf dem Teppich ein paar borstige rote Haare von Sammy. Sie hebt sie auf, muss niesen und trägt sie in die Küche, wo sie sie in den Abfalleimer wirft.
Sie stellt einen seltsamen Vergleich im Akkusativ an: Wen oder was wird sie wohl mehr vermissen? Das zusammen mit ihr bzw. weitgehend ohne sie gealterte Phantom aus ihrer Zeit als ganz junge Frau oder diesen dicken, eigenwilligen und egoistischen Kater, der sie nun nie wieder aufsuchen wird?

Mit dem Ergebnis des Vergleichs ist Bianca zufrieden. Sie geht ins Schlafzimmer und schiebt die Pappbox der Pandora zurück in den zwar nicht unerreichbaren, aber entlegenen Teil des obersten Regalbretts.

Vorläufiges Ende von Teil 3 und der ganzen Sache als solcher