Man kann – buchstäblich – geteilter Meinung darüber sein, ob die Zwei-Klassen-Gesellschaft beim Reisen im Öffentlichen Nah- und vor allem Fernverkehr noch zeitgemäß und politisch korrekt ist.
Fakt ist: Hier gibt es sie noch, die „Gewaltenteilung“ – und mithilfe eines mehr oder weniger fantasievoll festgelegten Aufpreises kann man sich die Teilhabe an der First Class im wahrsten Sinne des Wortes noch immer erkaufen.

Vielleicht ist es für diejenigen, die mit Öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, manchmal besser, wenn sie nicht alles wissen oder mitkriegen.

Im Folgenden erzähle ich zwei „wahre Anekdoten“, die für sich sprechen und deshalb keiner Kommentierung meinerseits bedürfen.

Dass es auch in S-Bahnen eine 1. und eine 2. Klasse gibt, war mir gar nicht bewusst – die S-Bahn ist ein Verkehrsmittel, das ich eher selten benutze. Vor einigen Monaten, auf dem Weg zu einem (beliebigen) deutschen Großflughafen, fand ich mich mitsamt großem Koffer in einem S-Bahnabteil der Linie wieder, die als einzige zum Flughafen fuhr. Stehend, denn alle Sitzplätze waren belegt. Für den Koffer gab es keinen wirklich guten Platz, also klemmte er zwischen meinen fahrtbedingt wackeligen Beinen, damit er sich nicht auf seinen Rollen selbstständig machte und anderen (ebenfalls stehenden) Mitfahrenden in die Hacken rollte. Wobei er ohnehin nicht viel Platz zum Wegrollen hatte, so dicht gepackt, wie wir in den Gängen standen.

Mein eingeschränkter Blick fiel auf ein abgetrenntes kleines Abteil mit dreckverschmierter Glastür. Hinter der Tür und den ebenfalls verschmierten Scheiben befanden sich jeweils links und rechts vom kurzen Gang … leere Polstersitzplätze. Die Aufschrift auf der Glastür lieferte eine Erklärung für dieses Phänomen: „1. Klasse“. Ach so! Aha! Na, dann … Offenbar gab es wenige Menschen, denen dies einen Aufpreis wert gewesen war – oder wenige, die davon gewusst hatten, dass es in der S-Bahn überhaupt eine 1. Klasse gibt.

Am nächsten Bahnhof öffneten sich die automatischen Türen, die Gangsteher*innen rückten noch enger zusammen, weil kaum jemand aus-, dafür aber viele Leute einstiegen.

Einer davon war ein junger bis mittelalter Mann, den man wohl, bevor die politische Korrektheit eingeführt wurde, unsensibel als „Penner“ bezeichnet hätte. Das erkannte man unter anderem an seiner abgerissenen Kleidung und an den zahlreichen verblichenen Plastiktüten und Taschen, die er mit sich führte – und man erkannte es leider auch an seinem unverwechselbaren Geruch nach … na, schon klar, oder?!

Offenbar war ihm das Phänomen des 1. Klasse-Abteils hinlänglich bekannt, denn er ging zielstrebig an den ohnehin vor ihm zurückweichenden Passagieren vorbei, öffnete mit Schwung die Glastür zum leeren Abteil – und nahm eine der beiden Sitzgruppen in Beschlag. Die Taschen und Tüten landeten auf der Sitzbank ihm gegenüber, er selbst breitete sich auf den anderen beiden Sitzen aus – und aus seinem Gepäck holte er einige Esssachen hervor, die er vor sich auf dem Tisch drapierte und dann schnell und hungrig verspeiste – man könnte auch sagen: herunterschlang.

Noch bevor ich aussteigen musste, hatte der Mann seinen Essensplatz auch schon wieder verlassen, die Essensreste in dem kleinen Abfallbehälter verstaut und das nicht Aufgegessene zurück in eine der Tüten gepackt. Er stieg aus und verschwand in seinem Leben, das er für einen kurzen Moment mit den bürgerlichen Mitreisenden auf deren Weg zum Flughafen geteilt hatte. Nein, nicht: geteilt: Die Wege hatten sich ganz kurz gekreuzt, und das 1. Klasse-Abteil blieb leer bis zur Endstation „Flughafen“.

Da diese unspektakuläre, aber bezeichnende Anekdote ebenso unspektakulär endet, ergänze ich sie mit einer anderen, die zeitlich und räumlich ganz woanders spielt. Aber das Wandern zwischen Raum und Zeit ist ja ein Privileg der Geschichten/auf/schreiber.

Stellen Sie sich vor, die S-Bahnlinie zum Flughafen hätte gar keine Endstation, sondern wäre eine “Circle Line“, die den ganzen Tag lang im Kreis durch eine Metropole fährt und dabei die unterschiedlichsten Viertel durchquert – und somit auch die verschiedensten Menschen befördert.
Will man eine solche Stadt als Tourist oder Neubewohner kennenlernen, gibt es kaum einen besseren Weg dafür als eine “Circle Line“ (wie es sie z.B. in London gibt).

Auf einer solchen Fahrt traf ich vor vielen Jahren auf einen älteren, bärtigen „Penner“, der sich aber hinsichtlich Gepäck und Geruch nur unwesentlich von dem jüngeren Mann unterschied, den ich in der S-Bahn getroffen hatte.
Der ältere Mann mit dem strengen Geruch (der sich aufgrund einer Verfärbung auf seiner Hose zweifelsfrei herleiten ließ) ließ sich auf einen der Sitze einer ansonsten leeren Vierergruppe sinken, holte eine Büchse Bier hervor und trank diese in schnellen Schlucken leer. Tatsächlich nahm er die Büchse wieder mit, als er an einer der nächsten Stationen wieder ausstiegt.

Zurück blieb ein leichter, stechender, eindeutiger Geruch, der aber vielleicht auch nur ein „Nachhall“ in der Nase oder eigenen Vorstellung war.

Die U-Bahn hielt an einem Bahnhof in einem der chicen Viertel der Großstadt. Es stieg eine äußerst gepflegte und erkennbar teure mittelalte Dame ein – und wählte just den Sitzplatz, den der alte Mann soeben verlassen hatte. In meiner Vorstellung tauchte der feuchte Abdruck seines Hosenbodens auf dem Sitzpolster auf, aber auch das war wohl nur eine Vorstellung, von der die teure Lady nichts ahnte. – Life is a Circle Line, and then you get off …