Diese Rezension beginnt etwas ungewöhnlich. Und zwar mit Erich Kästner.
Ich komme dann schnell zur Sache, aber das mit Erich Kästner muss jetzt einfach sein. Ich hoffe, dass Sie, liebe Judith Hermann, Erich Kästner mögen und mir diesen Exkurs nicht übelnehmen.

Als Kind habe ich die Kinderbücher von Erich Kästner verschlungen. Ich war noch in der Grundschule, als mir der ungewöhnliche Name „Cecilie-Dressler-Verlag“ ein Begriff wurde. Tatsächlich habe ich schon damals Kästners Vorworte gelesen, denn … die waren gut!
In einem der Bücher, ich glaube, es war „Das fliegende Klassenzimmer“, gab es eines, in dem er beschrieb, wie und wo er schreibt.
Er saß an seiner vermutlich schon damals klapprigen Schreibmaschine an einem Tisch im Garten und tippte. Ich bin ein Kind aus kleinbürgerlichem Haus. Bei uns wurde zwar viel gelesen, aber … einen Mann, der Schreibmaschine schreibend im Garten Geschichten verfasste, anstatt etwas Sinnvolles zu tun … so etwas gab es bei uns nicht – und hat mich unglaublich fasziniert. Die vermutlich, wie immer, von Walter Thier illustrierte Szene des tippenden fremden Herrn am Gartentisch ist mir bis heute ins Gedächtnis gebrannt.
Das erzähle ich vorweg, weil ich an einem Tisch in einem Garten sitze, während ich diese Rezension schreibe. Natürlich nicht auf einer klappernden Schreibmaschine, nein!, das Geräusch der geschmeidigen Tasten meines Laptops ist ein anderes, aber ich ahne, wie sich Erich Kästner gefühlt haben könnte, als er, von derselben, wenn auch etwas jüngeren Sonne geblendet, wie ich es jetzt bin, in einem Garten saß und tippte. Daheim. Angekommen. Zumindest auf Zeit.

Nein!, keine Sorge, ich bin nicht größenwahnsinnig geworden – und es liegt mir fern, mich mit Erich Kästner zu vergleichen oder gar in eine Reihe zu stellen. Es geht mir nur um das Schreiben im Garten, mit zusammengekniffenen Augen und einem langen Grashalm, der mich an der Wade kitzelt.
Und jetzt kommen wir endlich zu Judith Hermann und ihrem Buch „Daheim“.

Dass es dieses Buch gibt, habe ich im Coronajahr 2021 aus dem Fernsehen erfahren. Das muss im Zusammenhang mit der Leipziger Buchmesse gewesen sein, die zum zweiten Mal in Folge Pandemie-bedingt ausfiel – und eigentlich Schauplatz einer (erneuten) Preisverleihung an Judith Hermann hätte sein sollen. Dazu kam es nun nicht, jedenfalls nicht in der geplanten Form.

Aber das Buch war ja nun mal da – und sein schlichter Titel „Daheim“ sprach und sprang mich und das Thema meines Blogs auf Anhieb an. Allerdings nicht emotional, denn da, wo ich herkomme, heißt und ist „Daheim“ nicht „Daheim“, sondern „Zuhause“. Aber ein Buch mit diesem Thema – und das noch von Judith Hermann – daran kam ich nicht vorbei.
Ihretwegen habe ich mich, zunächst widerwillig, der Hürde einer Anmeldung im Blogger- und Rezensent*innenforum des S. Fischer Verlags gestellt. Nachdem diese Hürde genommen war, traf das Buch bald bei mir ein – und … ich kann es kaum anders ausdrücken … ich bin gleich „darüber hergefallen“.
Überraschend, dass das Cover eine am Meer im Sand sitzende Frau zeigt. Dazu möchte das Wort „Daheim“ irgendwie nicht so recht passen. „Daheim“ gehört für mich in den Süden, in die Berge, in die Nähe der Alpen … und nicht ans Meer.

Eigentlich wollte ich noch kritisch anmerken, dass es mich nervt, dass in diesem Roman die wörtliche Rede nicht als solche gekennzeichnet wird und dass es darin viele, eindeutig als solche erkennbaren, Fragen ohne Fragezeichen gibt. Was soll das? Ich finde das irgendwie prätentiös – und das hat dieser Text m.E. so gar nicht nötig. Diese Kritik kommt mir aber selbst kleingeistig und lächerlich vor, denn:

Kaum1/4 habe ich bisher geschafft, und doch habe ich schon so viele Stellen gefunden, die mir trotz oder gerade wegen ihrer Lakonie und Beiläufigkeit unter die Haut und an die Nieren gehen, dass ich mit dem Rezensieren nicht mehr warten muss, bis ich den Rest gelesen habe. Nein!, das Buch könnte jetzt auch abflachen und völlig an Reiz verlieren –egal! Die Szenen, die jetzt schon vor meinem geistigen Auge aufgetaucht sind und in die ich atmosphärisch eintauchen konnte, waren es wert – da kann gar nichts mehr passieren!
Darf ich kurz vorstellen? Die bisher noch namenlose Protagonistin wird in einer von allen guten Geistern verlassenen Tankstelle von einem alten Zauberer angesprochen, der auf der Suche nach einer neuen Assistentin ist, die er auf abendlichen Kreuzschiff-Galas zersägen kann.

Ich lasse es – damit ich schnell wieder zur Lektüre zurückkehren kann – dabei bewenden, dass ich zwei solcher Passagen zitiere. Entweder, Sie verstehen dann sofort, was ich, die Dauerentwurzelte und ewig Heimatsuchende, meine – oder halt nicht!
Es wird meinerseits keine Erklärung und keine Interpretation geben, nur so viel:

Abends saß ich oft auf meinem Balkon im fünften Stock. […]
      Ich mochte diesen Blick sehr.
      Die blaue Leuchtreklame der Tankstelle, die anfahrenden, abfahrenden Autos, die Ständer mit traurigen Sträußen in Folien, die Säcke Grillkohle vor der Tür. Wie die Leute aus ihren Autos stiegen, tankten, träumten, während sie zusahen, wie die digitalen Ziffern auf den Zapfsäulen durcheinanderratterten, wie sie reingingen und in den Zeitungen blätterten, Biere kauften, Schokolade und Minzbonbons. Ich stelle mir vor, dass alle diese Leute auf eine lange Fahrt gingen, volltankten, wirklich weit weg wollten, Leute auf der Durchreise, frag sie nach dem Weg und sie heben die Schultern und sagen, oh, ich bin nicht von hier, ich kenne mich auch nicht aus. Tut mir leid.

Rastlose Durchgangsstationen für Unentschlossene … Tankstellen und Rastplätze …

Wir schauten in den Garten raus, der Wind ging in diese Bäume, er zog an ihren schwarzen Blättern, sie sahen gar nicht mehr aus wie Blätter, eher wie Wasser, dunkelgrünes, schwarzes Wasser. Wir sahen alle drei hin. Wahrscheinlich war das gar nicht der Garten des Zauberers und seiner Frau, wahrscheinlich war das auch nicht ihr Bungalow. Sie waren da nur übergangsweise, sie wohnten nirgends, sie waren auf den Schiffen unterwegs, mit ihrer Kiste und diesem und jenem. Wahrscheinlich waren sie, letztlich, Reisende.

Judith Hermann, Daheim. Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag 2021, 189 Seiten, EUR 21,– (und davon jeden einzelnen Cent wert)