Ich bin im falschen Zug. Nein, nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinne: Der Zug, den ich hatte nehmen wollen, ist es dann doch nicht geworden. Nicht, weil er Verspätung hatte, sondern weil ich wider Erwarten früher zum Zuge gekommen bin.

Diese frühere Verbindung hat leider tatsächlich die prognostizierte „hohe Auslastung“. Und meine Sitzplatzreservierung hat hier natürlich keine Bedeutung. Schließlich finde ich einen Platz an einem Vierertisch in einem Großraumwagen. Zwar gegen die Fahrtrichtung, aber so müde wie ich bin, ist mir das egal.
Einer der drei Reisenden, an deren Tisch ich mich setze, bietet mir an, meinen Rollkoffer hochzuhieven, aber das ist nicht nötig — ich nehme grundsätzlich nie mehr mit, als ich selber tragen und stemmen kann.

Bis ich mich mitsamt elektronischer Devices und eines Getränks installiert habe, dauert es eine Weile, aber noch bevor ich mir die obligatorischen Stöpsel in die Ohren gesteckt habe, ist mir klar, dass der hilfsbereite Mann schräg gegenüber mit mir sprechen wird. Als Vielreisende und entsprechend Menschen-Kennende weiß man dies meistens auf den ersten Blick, vielleicht ein bisschen so wie einfühlsame Taxifahrer*innen, die vom ersten Moment an genau wissen, ob ihr Fahrgast schweigen oder sprechen möchte.

Ich bin noch unentschlossen. Einerseits bin ich ziemlich platt und ruhebedürftig. Andererseits habe ich ein paar Stunden Weg vor mir — und die gehen erfahrungsgemäß schneller um, wenn man ein bisschen Unterhaltung hat. Weil ich mich noch nicht entscheiden kann, nutze ich die Ohrstöpsel zunächst tatsächlich und nicht nur als äußerlich sichtbares Signal für „Sprich/Rühr mich nicht an!“

Irgendwann sind Musik und Hörspiel zu laut oder zu langweilig, und ich drücke die Stopptaste. Das gibt mir die Gelegenheit, unbemerkt ein paar Telefonate mitzuhören, die der Mann schräg gegenüber führt. — Schwer einzuordnen. Er spricht abwechselnd mal in einer slawischen Sprache und mal auf Deutsch mit dem typischen schweren osteuropäischen Akzent, den man normalerweise entweder mag oder scheußlich findet. Selbst das kann ich bei ihm nicht sagen. Der Akzent ist unüberhörbar, aber andererseits dezent genug, dass er nicht stört, sondern der eigentlich harten Aussprache fast etwas Softes verleiht.

Allmählich verstehe ich, worum es geht. Der Mann schräg gegenüber ist ein Trainer, und er spricht mit diversen Trainingspartnern oder Trainees. Es geht um Termine, um körperliche Fitness, um Krankheit oder Einsatzfähigkeit und um Organisatorisches. Ich kann auch heraushören, um welche Sportart es geht. Kampfsport. Ferner könnte mir eine Sportart wohl kaum sein. Ich habe absolut Respekt vor der Fitness und der Körperbeherrschung, die man für Kampfsportarten braucht, aber ein Sport, der vordergründig das Ziel hat, den Gegner zu verletzen und kampfunfähig zu machen, der liegt mir nicht — und dabei schaue ich auch nicht gern zu.

Das alles will so gar nicht zu dem Mann passen, der mir da diagonal gegenüber sitzt und hin und wieder ein offenes Lächeln sendet. Er geht ja nach wie vor davon aus, dass ich „abgetaucht“ bin und nichts höre.
Er ist eher drahtig und schmal und wirkt weder muskelbepackt, noch hat er eine platt geschlagene Boxernase oder ähnliche sichtbare „Kampfspuren“ oder Blessuren. Als er sein Händy vor sich auf den Tisch legt, sehe ich als Hintergrundbild eine aparte Frau mit kleinen Kindern. Alle lächeln entspannt in die Kamera. — Mein Interesse ist geweckt. Was ist denn DAS für ein Typ?!

Die unerwartete und möglicherweise trügerische Sanftmut von Fremden
kann sich besonders in der unwirklichen Atmosphäre von Nachtzügen entfalten.

Er macht es mir leicht. Auf der Rückseite seines Händys und auch aufgenäht auf seiner Mütze findet sich ein Schriftzug. Irgendwas mit „GYM“. Ich google mal, wobei ich dank des Endbahnhofs dieses Zuges auch mehr als vermuten kann, wohin der Mann fährt.

Es funktioniert: Gleich als Erstes auf der Homepage, die Google mir beim Suchen anbietet, taucht ein Foto des Mannes auf, der mir hier live gegenüber sitzt und nicht ahnen kann, dass er mir gerade doppelt erscheint. Und seinen Namen kenne ich jetzt auch, sodass ich weitergooglen kann. Er ist tatsächlich Trainer — und zugleich Inhaber eines Kampfsportstudios.

Die Kampfsportart, die man in seinem Studio vor allem erlernen kann, wird mit drei martialischen Großbuchstaben abgekürzt — und genau das ist sie auch: martialisch und fast ein bisschen archaisch. Sehr fremd und befremdlich für eine mitteleuropäische (weibliche und friedliche) Büropflanze wie mich.
Was ich auch noch erfahre beim Googlen, ist die Tatsache, dass der freundlich wirkende Kämpfer mir gegenüber bereits mit beachtlichem Erfolg an Deutschen Meisterschaften teilgenommen hat. In einer Disziplin, von der ich bis eben gar nicht wusste, dass es sie gibt.

Inzwischen ist die Dämmerung in Dunkelheit übergegangen, und somit hat sich diese besondere Nachtzugatmosphäre über den Großraumwagen gelegt, die Zugfahrer*innen sofort wahrnehmen und buchstäblich im Schlaf abrufen können. Der Kampfsportler studiert die Anzeigetafel auf dem Bildschirm, der unmittelbar neben unserer „Viererkoje“ an der Decke hängt. Ganz offensichtlich hat er eine Frage und schaut mich auffordernd an, zumal die anderen beiden Reisenden unserer Viererzufallsgruppe entweder schlafen oder ebenfalls verkabelt sind. Okay! Ich nehme die stumme Aufforderung an und ziehe die lange schon als Ohren- und Personenschützer zweckentfremdeten Stöpsel aus den Ohrmuscheln.
„Sagen Sie bitte, fährt dieser Zug eigentlich über [irrelevanter Name einer mittelgroßen Stadt]?!“, fragt der vermeintlich sanfte Kämpfer, wieder sehr höflich und zurückhaltend. — „Nein, fährt er nicht, da bin ich mir sicher“, antworte ich wissend. — Das Eis ist gebrochen, wir gehen zum „Elevator Pitch“-Teil der Reise über, und mir eröffnet sich seine fremde Welt noch ein kleines Stückchen mehr.
Das Gute daran ist, dass er keinerlei „Gegenleistung“ erwartet und keine indiskreten Gegenfragen stellt, ohne dass er einer von diesen weit verbreiteten Menschen wäre, die am liebsten von sich selbst erzählen. Im Gegenteil! Er sagt kein Sterbenswörtchen über seine durchaus erfolgreiche Teilnahme an Deutschen Meisterschaften.
Zwischendurch stellt sich auf meine Nachfrage hin heraus, dass es sich bei der slawischen Sprache, die er gesprochen hat, tatsächlich um Russisch handelt, was ich schon vermutet hatte. Wir sprechen nicht über Politik und schon gar nicht über Putin. Wir sprechen lieber übers Klavierspielen (das wir beide nicht beherrschen) und über Dostojewski und über „Schuld und Sühne“.
Ob ich das gelesen habe, fragt er.
„Ich hab’s versucht“, antworte ich wahrheitsgemäß, „und ,Der Spieler‘ habe ich als Theaterstück in Baden-Baden gesehen.“ Baden-Baden und „seine“ Russen“ — das allein wäre Stoff für mindestens eine weitere Stunde Sprechzeit. Ich spüre in diesem Moment schmerzlich, wie traurig ich es finde, was aktuell aus den deutsch-russischen Beziehungen geworden ist … und wie schwierig es ist, davon nichts auf diesen einzelnen Menschen, der vor mir sitzt, zu übertragen. Als hätten wir uns abgesprochen, kehren wir zurück auf sicheres Terrain. Der Mann bietet mir aus einer knallbunten Tüte mit kyrillischer Aufschrift unbekannte Bonbons an, die wie Smarties aussehen. Ich lehne dankend ab.
Wir reden über Sprachen. Interessanterweise mögen wir klanglich dieselben Sprachen — und dieselben nicht. Ob allerdings Russisch bzw. Deutsch nun schön klingen, darauf können wir uns nicht einigen; vielleicht sind wir auch wechselseitig zu höflich dafür.

Die Reisezeit ist vergangen. Die Wissensstände sind ungleich verteilt. Ich weiß, wie er heißt, wie seine Frau aussieht, wie viele Kinder er hat, was er macht und kann und wo seine Arbeitsstätte ist. Er weiß wenig bis nichts von mir. Nicht, wie ich heiße, er kennt meinen Beziehungsstatus nicht, ahnt nur vage, was ich beruflich mache und muss aufgrund meiner besonderen Reiseumstände und meiner ungewollt irreführenden Erzählungen vermuten, dass ich in [Name einer deutschen Großstadt] arbeite und wohne, was aber so nicht der Fall ist. (Aber es wäre schwierig und langwierig, hier meine tatsächliche Verortung zu erklären, zumal ich sie selbst nur ansatzweise verstehen und erklären kann.)
„Übrigens, was ich noch sagen wollte …“, sagt der vordergründig milde Kampfkunstsportler mit russischen Wurzeln auf den letzten Metern des gemeinsamen Weges, „wir haben auch manchmal Veranstaltungen, Wettkämpfe und Galas in Ihrer Stadt. Wenn Sie mal Zeit und Lust haben zu kommen und uns zu unterstützen, würde mich das sehr freuen. Ist bestimmt interessant für Büromenschen 😉 …“

Wir verabschieden uns und wünschen einander „Alles Gute!“ — Ob ich das wirklich machen würde?! Zu einem Kampfsport-Event gehen, in der ohnehin für meinen Geschmack martialisch genug wirkenden Großstadt?! Vielleicht wäre das tatsächlich mal „interessant für Büromenschen wie mich“.
Der Einblick in einen (Box-)Ring und eine fremde und kampfbetonte Welt war es allemal.
„To be continued“?! Kann ich noch nicht sagen. Vielleicht relativiert der zeitliche Abstand mein frisch gewecktes Interesse. Und vielleicht verliert bei diesem inneren Kampf dann der Kampfgeist gegen mein starkes Harmoniebedürfnis.