„Allí“ von Carmen José ist ein Buch, das – ganz im Sinne seines Inhalts und Gehalts – zwischen Welten wandert und sich gängigen Kategorien entzieht. – Ist es … ein Bilderbuch für Erwachsene? Ist es eine Art illustrierter Gedichtband? … ein Skizzenbuch mit Text?
Und: Ist es nicht sowieso völlig egal, was es ist, zumal es ja in keiner Weise *vorgibt*, etwas (davon) zu sein.

Wir dürfen uns also unakademisch einfach mal „fallen und treiben lassen“ und uns frei von Druck ganz auf „Allí“ „einlassen“.

Schon von außen sieht das Buch anders aus als andere, mehr wie ein Oktavheft, zumal es auch schonungslos auf einen Papprücken verzichtet, sodass die Fäden und Nähte offen zu sehen sind. Und genau so ist auch das Buch: Es liegt und legt offen.
Es offenbart sich und die Gefühle und Gedanken seiner Verfasserin, die von der Illustration kommt und sowohl beim Zeichnen als auch beim Texten in Bildern denkt und sich ausdrückt.
Carmen José kommt aus Spanien, hat lange in Deutschland gelebt und hier studiert und wohnt jetzt in einem dritten Land, in den Niederlanden. Aber das sind nur die Fakten und quadratischen Daten von jemandem oder etwas, das so nicht in Schubladen gehört.
Insofern fällt es mir schon schwer genug zu sagen, sie sei „Spanierin“. Ich erlebe sie vielmehr als eine durchaus zwischen den Welten und Ländern hin- und her gerissene, aber nicht innerlich zerrissene Person und Persönlichkeit, die mit den Widersprüchen zwischen Herkunft, Aufenthaltsort, Zwischenstationen und zukünftigen places to be hat leben lernen und die zwischen ihnen jongliert.
Dennoch gibt es immer wieder Brüche, die sie gar nicht zu kitten versucht, sondern als Sollbruchstellen „zulässt“.

Auch die Sprachen, die Carmen verwendet, bewegen sich – hin und her und her und hin … zwischen Spanisch und Deutsch … mal mühe- und scheinbar übergangslos, mal abrupt und kantig-ungeschmeidig. Genau so stelle ich es mir in ihrem Inneren vor, wenn sie zwischen den Welten, Sprachen, Kulturen, … hin- und herswitcht. Die deutschen Sätze, Satzteile und Fragmente sind nicht die Übersetzung aus dem Spanischen (oder umgekehrt), sondern nehmen Gedanken auf und führen sie in der jeweils anderen Sprache fort oder drücken sie in deren Eigenart anders aus.

Sie kommt aus Spanien. Sie heißt Carmen. Sie trägt den Stier in sich, wie ein Brandzeichen.
Doch der Stier – das archetypisch Spanische – findet keine Heimat; die junge, unbekleidete Frau, die autobiografisch und doch verFREMDet, durch ihr eigenes Buch wandelt, ist dem Stier ungeschützt ausgeliefert, doch der Stier scheint ihre Verwundbarkeit und Unsicherheit nicht auszunutzen. Nein, das steht so explizit nicht im Text und auch nicht „wörtlich“ in den Bildern geschrieben, doch wer, wie ich, auch einen Stier (oder ein anderes Tier) in sich trägt, kann sich dieser versöhnlichen Auslegung von Wunschdenken anschließen.
Der Stier ist unausweichlich, er verlangt und erzwingt, dass man ihm begegnet und ihm vielleicht auch ausweicht, doch los wird man ihn nicht.

„fremd und vertraut“ zugleich und manchmal auch nur das eine oder das andere – das ist ein Gefühl und eine Lebensform, die vielen von uns in diesen unruhigen Zeiten nicht erspart bzw. „geschenkt“ wird, je nachdem, welches Gefühl gerade in uns überwiegt.
Das Wandern und Wandeln zwischen zwei Sprachen bleibt mir erspart bzw. wurde mir nicht geschenkt, wäre es doch derjenige Teil innerer Zerrissenheit gewesen, den ich nur zu gerne erlebt und „assimiliert“ hätte zu einem wilden Gemisch aus Klängen und Bedeutungen, die mal in der einen und mal in der anderen Sprache besser auszudrücken wären und in denen ich gleichermaßen „zu Hause“ gewesen wäre.

Auch Carmen José ist weder „zu Hause“, noch an einem anderen Platz fest angelandet und verwurzelt, zumal sie nun an einem dritten Ort lebt. Der fremde und auch selbst einsame Stier in ihr ist zu einem unicornio geworden – ihr Vorname „Carmen“ verteidigt fast trotzig die spanische Herkunft. Doch einmal mehr entzieht sich das Buch und entziehen sich Bilder und Text einer Festlegung, weder auf ein festes Genre, noch auf eine spezielle Zielgruppe oder gar eine bestimmte Nationalität. Fast habe ich den Eindruck, als wolle das Buch bewusst „staatenlos“ im Zwischenstadium des Niemandslandes bleiben, um es mal mit Wortgirlanden überfrachtet auszudrücken.
Denn für alle, die sich dem Status der Wurzellosigkeit zugehörig fühlen, hat Heimat sowieso keinen bestimmten Platz oder Ort, schon gar keinen festen, geschweige denn dauerhaften. Insofern sprechen auch die zarten Bilder in Bleu und einem eigenwillige Rosé-Ton (und nicht etwa in Blau und Rosa) für sich – sie wirken vorläufig und skizzenhaft und flüchtig, aber voller Gefühl und vielleicht sogar: Sehnsucht.

Der glückliche Zufall will es, dass ich Carmen José auf der Leipziger Buchmesse (#lbm23) treffen und ein bisschen kennenlernen darf. Ihre Ausstrahlung, ihre Haltung, ihre Sprache und ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten „Kulturkreis“ hätte ich ohne mein Vorwissen nicht ausmachen können. Auch sie entzieht sich gängigen Kategorien von „typisch spanisch“ oder „schon total deutsch geworden“. Sie bleibt auch als Person „allí“ [dort] und irgendwie nicht ganz „aquí“ [hier], sondern im luftigen Hier und Jetzt ihrer „Glasinsel, auf der sie gelandet ist“, für den Moment, „entre las paredes“ und wohnt „außerhalb der Tür“ und „por compartir el camino“ … „tierra caminada la distancia“.

Carmen José (www.carmenjose.com), Allí Hier. 1st Edition March 2017. Co-published by Rotopol, Kassel (Germany). ISBN: 978-3-940304-25-4 sowie: BARBARA FIORE EDITORA. Granada (Spain). ISBN: 978-84-15208-99-0; in Deutschland EUR 18,00.