Nach der Frankfurter Buchmesse habe ich gerade einen kleinen „Bücher- und Lesestau“ bei meinen Rezensionsexemplaren. Obwohl das, was ich rezensiere, immer durch den Filter der Relevanz für das Thema des Blogs muss, gab und gibt es derzeit einiges, was zur Themenwelt „Reisen und Unterwegs-Sein / Heimat-Suchen und manchmal auch -Finden“ im engeren und weiteren Sinne passt.
Aber „Bring mich nach Hause“ von Jesús Carrasco habe ich jetzt mal ganz oben auf den „to be revised and revisited“-Stapel gelegt. Meistens schaffe ich es schon lange nicht mehr, die Bücher, die ich vorstelle, von A bis Z zu lesen, aber bei „Bring mich nach Hause“ habe ich mich deutlich mehr „festgelesen“, als das sonst häufig der Fall ist. – Warum eigentlich?!
Naja, da ist natürlich der Titel, der eine emotionale Seite und Saite zum Klingen bringt, wenn man sich für das Thema „Zuhause sein und sich fühlen“ interessiert. „Bring mich nach Hause“ ist ein Satz, der mitten ins Mark trifft. Soll er natürlich auch. (Klappt!)
Als Nächstes ist es das Cover in abendlich-gedeckten Sonnenuntergangsfarben, aber eben nicht kitschig-schreiend, sondern dezent und „wohlig / wohl tuend“. Und das sich in den Buchstaben brechende „Licht“ ist natürlich ein interessantes Detail bzw. ein gut gesetzter Bruch der Harmonie.
Ja, okay, der Vorname des Autors ist natürlich auch ein Hinhörer, aber da er nicht der erste „Jesús“ ist, dem ich sozusagen persönlich begegne, bin ich hier schon etwas abgeklärt.
Aber jetzt spielt das Ganze auch noch in Spanien, das Heimatland des Protagonisten Juan, in das er anlässlich des Todes seines Vaters zurückkehrt – aus Edinburgh kommend, wo er im Botanischen Garten arbeitet. Spätestens da hat mich die Handlung gepackt – zu viele Reizwörter, an die mein sensorisches System andocken kann. Klingt unglaubwürdig, aber tatsächlich hatte ich als eine der Stellen, die ich hier als Trailer zitieren wollte, genau dieselbe ausgewählt wie der Verlag:
Also eine Vater-Sohn- und Familien(-Aufarbeitungs-)Geschichte, deren Nachverfolgung ich einfach mal Ihnen überlasse, denn damit haben Sie schon genug zu tun und zu verarbeiten. — Ich spure hingegen (missions)bewusst vor allem den Unterwegssein-Strängen nach.
Denn: In diesem Roman wird viel gereist und gefahren, in verschiedenen Verkehrsmittel, z.B. auch in einem „Überlandbus“. Kurze „Wartepause“ vom Beginn dieser Fahrt (nach Cruces) bzw. des Kapitels 27 und darüber hinaus:
Sie kommen fünf Minuten, bevor der Bus nach Cruces abfährt, an der Haltestelle an. […] Gegen den Sitz gelehnt, den Blick zur Decke gewandt, bläst Juan die Backen auf und stößt Luft aus. Der Seufzer ist so laut, dass er einem anderen Passagier in der Nähe auffällt. Ganz schön heiß heute, sagt der Mann. Juan sieht ihn an und nickt schweigend. So eine Hitze, ja. Und wer weiß, was noch vor ihm liegt. […]
Jeder, der schon einmal, vorzugsweise im heißen Sommer, in einem „Greyhound“-Bus saß, wird an dieser Stelle wahrscheinlich diese ganz besondere Atmosphäre abrufen können. Die Geräusche und Gerüche – diese ganz spezielle Mischung, wenn man, zur Abfahrt bereit, mit oder ohne festes Ziel, in einem solchen Überlandbus sitzt.
Vielleicht ist es also kein Zufall, dass ich dieses Buch etappenweise lese, hier und da ein bisschen verweile und auch mal eine Etappe (und ein Verkehrsmittel) überspringe. Französische Autos kommen hier zum Zuge (also jetzt: im übertragenen Sinne) und verstärken, zumindest bei mir, eigene Erinnerungen an mehr oder weniger klapprige Renaults und „Deux CVs“.
An manchen Stellen, an denen Juan Station macht auf der Suche nach seiner Vergangenheit und seinen familiären Wurzeln, fühle ich mich – das liegt womöglich an der „iberischen“ Prägung – fatal an Paulo Coelho erinnert, dessen (für meinen Geschmack schnell ins Seierige und Hobby-Esoterische kippende) Weltsicht ich nicht besonders schätze, aber ich glaube, das ist eher meine „Angst vor dem lateinamerikanisch-pathetischen Coelho-Syndrom“ und nicht wirklich Jesús Carrascos Schuld.
Wie sehen Sie das?! Ich empfehle für den „Seier-Faktor-Schnellcheck“ die Seite 145, auf der vom „wahren Tod“ die Rede ist, ein perfekter Indikator für den Übergang, nicht nur zum Übersinnlichen.
Aber lassen wir doch Coelho (dessen Namen ich hier schon viel zu oft erwähnt habe) und die französischen Busse und Autos in Spanien nun einen Moment stehen und wenden uns ihren Passagieren und Fahrer*innen zu:
Wer bringt hier eigentlich wen nach Hause? Und wo genau ist das? Kann man das auf einer Karte finden?
Nee, nee, liebe Mitreisende, vergessen Sie’s! Ich werde das jetzt nicht spoilern, geschweige denn: interpretieren. Das dürfen Sie gern selbst herausfinden. Sonst wäre es ein bisschen so, als würde man die Pointe wegnehmen. Aber ich darf verraten: Laut Verlagsangabe ist dies die Geschichte „von einem verlorenen Sohn und einer späten Aussöhnung“. Klingt doch nach einem versöhnlichen Ausgang.
Jesús Carrasco, Bring mich nach Hause. Roman. Übersetzung aus dem Spanischen von Silke Kleemann. Köln: Eichborn by Bastei Lübbe 2021. 288 Seiten, € 23,–; ISBN: 978-3-8479-0120-4 (Erscheinungstermin: 26. August 2022); spanischer Originaltitel: „Llévame a casa“.