Sie geht – und zwar für immer! (Teil 1/2)
Sie werden diese Szene aus Spielfilmen kennen: Heldin und Held waren ein Paar, aber jetzt haben sie sich fürchterlich gestritten. Sie schäumt vor Wut und beschließt, in einem Moment, in dem er gerade nicht zuhause ist, die gemeinsame Wohnung zu verlassen … und zwar für immer!
Wenn Ihnen das bekannt vorkommt, wissen Sie auch, was jetzt folgt:
Die Frau des Hauses bzw. der Wohnung – sie ist ca. Anfang 40 und sehr gepflegt (das wird später noch eine Rolle spielen) – öffnet mit einer fahrigen, aber energischen Bewegung eine Tür der mannshohen weißen Lackschrankwand im Schlafzimmer und zerrt einen Rollkoffer heraus, den sie mit Schwung auf das Doppelbett wirft.
Um es gleich zu sagen: Es ist für den weiteren Verlauf völlig unerheblich, wie dieser Koffer genau aussieht, aber wichtig ist: Er ist klein. Verdammt klein sogar. Sie – und ich – würden mit einem so lächerlich kleinen Koffer wahrscheinlich noch nicht einmal übers Wochenende verreisen. Praktisch veranlagt wie wir sind stellen wir uns unwillkürlich vor, wie viel Platz noch bleibt, wenn wir unseren Kulturbeutel und ein Paar Schuhe (ordentlich verpackt in einem Schuhsack) hineinlegen … da geht nicht mehr viel. Übrigens: Merken Sie sich das bitte mit dem Kulturbeutel. Sie werden es gleich noch brauchen.
Der Koffer liegt jetzt also geöffnet auf dem Bett. Die entschlossene Frau reißt scheinbar wahllos verschiedene Kleidungsstücke aus dem Schrank und wirft sie ungefaltet und unsortiert in das Köfferchen. Die Kamera schwenkt zurück auf die glatten weißen Fronten des Schranks und dann wieder auf das Gesicht der Hauptdarstellerin (close-up!) und gleich wieder zurück auf die Schranktüren – aber sie vermeidet es ab diesem Moment, nochmals den Koffer zu zeigen. Und das aus gutem Grund.
Gemessen an der Zahl der Kleidungsstücke, die die aufgebrachte Frau ungebrochen aus dem Schrank zerrt, müsste dieser winzige Koffer schon längst voll sein – erst recht, weil alles genau so hineinfliegt, wie es aus dem Schrank kommt. Manche Teile hängen sogar noch auf Bügeln, die ebenfalls in hohem Bogen Richtung Koffer fliegen. Für diese Szene scheint es außerdem von großer Bedeutung zu sein, dass mindestens ein Abendkleid dabei ist. Warum das so ist, verstehe ich bis heute nicht, denn eine Frau, die gerade ihren Mann verlässt, hat doch wahrscheinlich anderes im Kopf als Cocktailpartys zu besuchen.
Ach so … ich hatte noch gar nicht erwähnt, dass es zur Zeit Winter ist. Temperaturen rund um den Gefrierpunkt. Als vernünftige Person tragen Sie wahrscheinlich an Tagen wie diesem eine blickdichte, warme Wollstrumpfhose. Und einen Strickpulli mit Rollkragen. Oder eine Strickjacke mit Zopfmuster. Und ein Angora-Unterhemd. Sie ahnen schon, worauf ich hinauswill.
Unserer Heldin ist das alles egal. Sie will weg – und das schnell, und zwar für immer. Und dazu braucht sie weder einen Pulli noch Strümpfe, geschweige denn Mütze, Schal und Handschuhe. Für jemanden, der gerade für immer sein bisheriges Leben und seine Wohnung verlässt, ist sie erstaunlich genügsam. Meint sie etwa, dass sie in ihrem neuen Leben mit einem dünnen Abendkleidchen und ein paar Holzbügeln zurechtkommen wird?
→ Teil 2