Bahnhöfe sind sozusagen „von Berufs wegen“ Orte der (Wieder-)Begegnung und des Abschieds. So bleibt es für eine Vielreisende wie mich nicht aus, dass ich hin und wieder unfreiwillig Zeugin eines eigentlich intimen Moments zwischen zwei Menschen werde, die sich kurz vor der Abfahrt eines Zuges voneinander verabschieden oder nach der Ankunft mehr oder weniger innig begrüßen.
Gestern war das wieder besonders heftig! Überall lagen sich Paare in den Armen, küssten und umklammerten einander, hielten sich eng umschlungen und drückten sich noch ein letztes oder ein ersten Mal. Der Geruch von Abschiedsschmerzen und das Gefühl von Wiedersehensfreude waren zum Greifen nah — und lagen eng beieinander.
Am Gleis gegenüber stand eine Tür noch offen — der Zug war zum Abfahren bereit. Doch ein Pärchen war noch längst nicht fertig mit dem Auf-Wiedersehen-Sagen. Fast hätte ich darüber den mittelalten bis älteren Mann übersehen, der — mit einer in gepunktetes Packpapier gewickelten einzelnen Blume in der Hand — hektisch in der Nähe dieser Tür auf und ab ging. Nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Offensichtlich wartete er auf jemanden. Jemanden, der bzw. die noch nicht eingetroffen oder zumindest noch nicht ausgestiegen war.
„Das hier ist doch Wagen 5, oder?!“, fragte der Mann ohne Einleitung die unfachmännisch blondierte Bahnbeamtin, als sie kurz den Kopf zur Tür des ICEs herausstreckte. Sie bejahte.
„Komisch!“, murmelte der Mann kopfschüttelnd und lief wieder ein paar Schritte auf und ab. Ich hatte Gelegenheit, ihn zu mustern. Offensichtlich hatte er sich mit der Kleidung Mühe gegeben; er trug einen sauberen dunklen Anzug und blank gewienerte schwarze Schuhe. Seine halbwegs vollen, für sein Alter noch recht dunklen Haare glänzten leicht ölig.
Ich müsste lügen, würde ich sagen, dass er mir sympathisch gewesen wäre, aber irgendwie hatte ich Mitleid mit ihm und seiner zunehmenden Hektik und Verzweiflung.
Der blond gefärbten, leicht übergewichtigen Bahnbeamtin mittleren Alters muss es ähnlich gegangen sein, denn sie fragte freundlich: „Warten Sie auf jemanden?“
„Ja!“, bestätigte der Mann, „aber sie scheint nicht im Zug gewesen zu sein.“
Die üppige Blondierte überlegte eine Weile, blickte kurz auf die Uhr — und dann geschah etwas Ungewöhnliches. „Wie heißt denn die Dame. auf die Sie warten?“, fragte sie.
Der Mann mit der einzelnen Blume in der Hand nannte einen für Frauen um die 50 gängigen dreisilbigen Namen — sagen wir mal … „Sabine“.
„Und wie heißen Sie mit Vornamen?“
Der Mann nannte einen eher lächerlichen männlichen Vornamen — nennen wir ihn hier doch einfach „Horst“.
Da ging die Blonde zur Mikrofonanlage und ließ die vermisste Dame über die Innenlautsprecher ausrufen: „Falls eine Sabine an Bord dieses Zuges ist, wird sie gebeten, sich in den Wagen 5 zu begeben. Sie wird auf dem Gleis von Horst erwartet. Ich wiederhole: […]!“
Mit jeder weiteren Sekunde, die verging, sah man bei Horst den Mut und die Hoffnung schwinden, dass seine „Sabine“ noch aussteigen würde. Unwillkürllich vermutete ich, dass es sich um ein Blind Date handelte und er die Dame vermutlich noch nie persönlich gesehen hatte. Horst fuchtelte mit der Blume herum — und ich konnte sehen, dass es keine Rose war, sondern irgendetwas anderes, Gelbes. Das fand ich gut — und für ein erstes Date angemessen.
Der ICE konnte nun nicht mehr länger warten, weder auf Sabine, noch auf andere menschliche Dramen. — „Tut mir wirklich leid“, sagte die blonde Bahnbeamtin mitfühlend, „aber wir müssen jetzt echt los!“
Und da tat Horst etwas, was ihn in meiner Sympathie und Achtung steigen ließ. Er drückte der Blonden die Blume in die Hand — und bevor sie protestieren konnte, sagte er quasi nachträglich: „Darf ich Ihnen die Blume überreichen?“
Pfffffffft! Die Türen des ICEs schlossen sich mit dem unnachahmlichen und typischen Geräusch, Horst trat einen Schritt zurück — und die blonde Frau wurde optisch von den blinden Scheiben des Zuges verschluckt.
Und was glauben — oder hoffen — Sie, was nun geschah?! Ich helfe Ihnen auf die Sprünge:
a.) Als Horst sich umdrehte, stand Sabine, übrigens dunkelhaarig, doch noch auf dem Bahnsteig. Doch die Blume hatte nun ja leider eine andere …
b.) Horst hatte sich in die leibhaftige blonde Bahnbeamtin verguckt — und darüber die große Unbekannte (Sabine) von einem Moment auf den anderen vergessen. Er hatte sich den Namen der Bahnbeamtin auf dem Namensschild gemerkt — und setzte nun alles daran, um sie wiederzutreffen. Aber das ist eine andere Geschichte.
c.) Nichts. Nichts geschah. Sabine blieb weg — und die Blonde fuhr ebenfalls mit dem ICE davon. Ende der Durchsage.
Horst blieb zurück und ging frustriert nach Hause, wo er den PC anwarf und nach einer neuen Kandidatin fürs Leben suchte.
d.) Keine Ahnung. Ich weiß es ja auch nicht. Aber ich habe keine wirklich gute Prognose für Horst. Die Blume hätte ich übrigens auch genommen.