Lost and found … and lost again

Es gibt schräge Geschichten, die das Leben schreibt. Und es gibt wahre Geschichten, die das Leben nicht besser hätte schreiben können.
Und es gibt schräge, wahre Geschichten. Aber die sind eher selten. So selten, dass man sie erzählen sollte, wenn sie passieren.

Eine mir bekannte Person – nennen wir sie mal Sabine Schneider – hat sie erlebt. Als sie an einem x-beliebigen Tag auf Dienstreise war und in Kassel-Wilhelmshöhe ihren reservierten Platz im ICE von Gleis 3 einnehmen wollte, saß auf dem Platz daneben … tatsächlich eine Kollegin, die unabhängig von ihr reserviert hatte. So weit, so zufällig. Sabine machte es sich neben ihrer Kollegin im Zug bequem, packte ein paar Dinge aus ihrer Tasche aus und wieder ein und parkte ihr Smartphone griffbereit in dem kleinen Gepäcknetz an der Rückenlehne ihr gegenüber. Die beiden Kolleginnen unterhielten sich angeregt, und die Bahnfahrt, die übrigens – und das war wiederum nicht ganz so überraschend – dasselbe Ziel hatte, verging nicht wie im Zug, sondern wie im Flug. Bis dahin war alles noch nett und angenehm, zumal die beiden beim Aussteigen herausfanden, was sie noch nicht voneinander gewusst hatten — dass sie nämlich beide in Kassel geboren und aufgewachsen waren.
Doch als Sabine irgendwann später nach ihrem Smartphone greifen wollte, stellte sie fest, dass es nicht an der Stelle war, wo es hingehörte. Nein, denn es lag immer noch im Gepäcknetz, wo es nun nicht mehr hingehörte.

Sabine reagierte dem Anlass entsprechend aufgeregt, und ein wilder Film lief in ihrem Kopf ab: Was muss ich jetzt tun? Welche Daten habe ich auf meinem Handy? Wie kriege ich das jetzt wieder? … falls ich es überhaupt jemals wiederbekomme … Sabine tat, was getan werden musste, unter anderem ließ sie die SIM-Karte sperren. – Die Tatsache, dass ihr Phone, unvorsichtigerweise, nicht mit einem Code geschützt war, hatte nun Vor- und Nachteile.

Schließen Sie doch bitte jetzt mal kurz die Augen. Stellen Sie sich vor, welche Gedanken Ihnen durch den Kopf schießen würden, wenn Ihr Smartphone weg wäre. Sie glauben gar nicht, was einem da alles in den Sinn kommen kann. Die Überlegungen und Hoffnungen fahren Achterbahn – und man kann eine ganze Menge über sich selbst und sein Menschenbild erfahren. Wird der Finder ein ehrlicher Mensch sein, der alles daran setzen wird, das Smartphone wieder seinem Besitzer zuzuführen?! Oder ein gleichgültiger, der keine Lust auf Stress und Umstände hat und deshalb den Fund einfach im Gepäcknetz stecken lässt und sich vom Acker macht?! Oder ein Fiesling, der das Gerät ein- und eine neue SIM-Karte hineinsteckt?! Oder … oder … oder. Komischerweise konnte sich Sabine bei allen Varianten nur einen Mann vorstellen; eine Frau wollte einfach nicht in ihr Kopfkino passen.

Dabei war das Kino in Sabines Kopf ein Actionfilm mit halsbrecherischer Achterbahnfahrt – es ging auf und steil bergab und dann wieder auf.
Moment! Ich hatte Ihnen ja eine wahre und schräge Geschichte versprochen … Nach ein paar Tagen des Hoffens und Zweifelns meldete sich tatsächlich telefonisch ein sehr freundlicher Mann aus Nordhessen – der Finder! Dass das Handy ungesperrt gewesen war, hatte sich hier als Segen erwiesen, denn anhand der letztgewählten Nummern hatte er Sabines Identität – und Telefonnummer – herausgefunden. Die beiden führten ein sehr langes und nettes Telefonat, und der Finder versprach, das Fundstück per Post zurückzuschicken. Sabine hatte keinerlei Zweifel daran, dass er sein Versprechen wahr machen würde.
Wer jetzt eine Wendung dieser Geschichte zu einer romantischen Lovestory erwartet, wird leider enttäuscht – und braucht nicht weiterzulesen. Aber es gibt ja auch schöne Geschichten ohne Romantik, aber dafür mit Herz.

Und so ging Sabine zwei Tage später bester Laune in die Postfiliale, in der sie laut Abholzettel, den sie in ihrem Briefkasten vorgefunden hatte, ihr Päckchen abholen konnte. Erwartungsgemäß war es auch tatsächlich da.

Doch dann der ungläubige Schreck, als Sabine zu Hause das Paket öffnete und hineinsah: Darin befand sich eine alte Handyschachtel … und die war leer! Wieder drehte sich das Gedankenkarussell. Was war denn hier passiert?! Konnte es sein, dass der (vermeintlich?) ehrliche Finder sie so sehr verarscht hatte?! Aber er hatte doch am Telefon so nett geklungen …

Sabine inspizierte nun das Päckchen, in dem die leere Schachtel gesteckt hatte. Es war – das sah sie erst jetzt – an einer Seite aufgerissen und dort mit einem Paketband der Post neu zugeklebt worden.
Die Spekulationen schlugen Purzelbäume. Nach einigen Momenten zwischen Schreck, Wut und ungläubigem Staunen griff Sabine kurzerhand zum Telefon (gemeint ist natürlich ihr Festnetz) und rief den Finder, dem sie eine solche Unverfrorenheit einfach nicht zutraute, an. Er versicherte, das Smartphone ordentlich verpackt und „verschnürt“ zu haben. Sabine hatte keinen Anlass, an seiner Aussage zu zweifeln. Unglaublich! Offenbar hatte zwischen Versand und Zustellung nun noch jemand anders zugegriffen – und die vielleicht zu offensichtlich werthaltige Sendung geklaut …

… und damit endet – leider – diese ebenso wahre wie unglaubliche Geschichte vom vergessenen Smartphone. Eine weitere verrückte und wenig wahrscheinliche Wendung können wir nicht bieten. Das Gerät blieb verschollen. Der ehrliche Finder blieb bei seiner Frau. Der Dieb blieb unentdeckt.
Und Sabine blieb der Trost, dass sie einiges über sich und das Leben gelernt hatte, was sie nicht gelernt hätte, wenn sie an jenem Morgen nicht zufällig neben ihrer Kollegin im Zug von Kassel nach Hamburg gesessen hätte.

2 Kommentare

  1. Liebe Verfasserin dieser Geschichte, ich habe von diesem Thema über ein paar andere Ecken erfahren und es ist wirklich unglaublich. Das ist eine der Geschichten, die man nicht erfinden würde, weil man seine eigene Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setzen will. Aber solche Dinge passieren. Ich finde den Text gut gelungen 🙂
    Michael

    • Dankeschön, lieber Michael,
      ja, genauso ist das. Wenn man sich so etwas ausdenkt, kommt man wohl schnell in die „Jaja, komm, hör auf!, sowas gibt’s doch gar nicht!“-Ecke. Umso schöner und überraschender, wenn einem der Alltag solche kleinen Geschichten schenkt.
      Wenn Dir mal sowas passiert, schreib (mir) gern darüber — dieser Blog lebt von guten Stories. Sie dürfen auch erfunden sein.
      Die „Compassagierin“ mlG

Schreibe einen Kommentar