Mittlerweile habe ich eingesehen, dass es zum Thema „Pendeln“ (fast) nichts gibt, was es noch nicht gibt. Das ist einerseits gut, weil es zeigt, dass es wirklich ein großes Thema ist – und das kann mir als übers Pendeln Bloggende natürlich nur recht sein. Andererseits ist es deshalb auch umso schwieriger, noch etwas Originelles darüber zu finden.
Gefunden habe ich vor kurzem einen „Pendler-Knigge“ mit sage und schreibe 99 (!) Geboten für den ÖV = Öffentlichen Verkehr. Das ist doch erstmal viel, wenn man bedenkt, dass selbst eine an Ge- und Verboten nicht gerade arme Institution wie die katholische Kirche mit nur 10 Geboten auskommt. Jetzt also noch 89 mehr – das muss ich mir mal näher anschauen.
Nein, die „99 Gebote“ stehen nicht in einer ÖV-Bibel, sondern in einem handlichen Buch, auf das die Adjektive „quadratisch“, „praktisch“ und „gut“ passen könnten, wenn sie nicht schon für die entsprechend beworbene Schokolade reserviert wären.
Schauen wir also mal gemeinsam hinein in den „Pendler-Knigge“. Was als Erstes ins Auge springt, sind die markanten, schräg-schrillen, häufig farbigen Illustrationen/Karikaturen. Die gefallen mir gut – und machen schon beim Durchblättern Lust aufs Lesen der kurzen Texte. Angenehm für die Bedürfnisse unruhig-rastloser und von Zeitnot geplagter Pendler*innen ist diese gut portionierte Aufteilung in die angekündigten 99 bzw. 100 Gebote, die allesamt in leicht verdaulichen Lesehäppchen aufgetischt werden. Warum jetzt auf einmal 100 und nicht 99?! Nun, das einhundertste Gebot ist außer der Reihe und lautet, dass man alles Abgefahrene, das man im Zug und beim Pendeln erlebt, der Autorin des „Pendler-Knigges“ mitteilen soll … Na, hier muss ich natürlich widersprechen! Bitte erzählen Sie es ab jetzt mir, damit ich darüber schreiben kann …
Nein, Quatsch!, beim Pendeln gibt es so viel zu erleben, dass die Anekdoten und Geschichten für uns beide reichen :-).
Der „Pendler-Knigge“ hat ein paar nette Extras im Gepäck: So gibt es ein „Pendler-Bingo“, ein Pendler-Kreuzworträtsel und ein paar weitere Spielereien wie einige heraustrennbare Karten, mit Hilfe derer man seinen Mitreisenden ohne (weitere) Worte einschlägige Botschaften unter die Nase halten kann. Naja, kleine Spielerei halt.
Kommen wir nun endlich zum Wesentlichen, den 99 Geboten. Ich gehe mal davon aus, dass die Autorin zumindest eines mit der katholischen Kirche gemeinsam hat: Das erste Gebot wird vermutlich nicht das unwichtigste sein. „Ich bin der Herr, dein Gott! Du sollst nicht andere Götter haben neben mir!“, so heißt das in der Bibel. (Jaja, okay, ich musste es auch googlen.) Im „Pendler-Knigge“ geht das so: „Du sollst auf der Rolltreppe rechts (rechts!) stehen, links (links!) gehen.“ – Hey!, mit der Dame komme ich ins Geschäft! Mir gefällt auch der sorgsame Umgang mit dem Ausrufezeichen an der wesentlichen Stelle. … und ich vermute, dass die Quote in der Befolgung des ersten Gebots in beiden Fällen etwa ähnlich frustrierend ausfällt.
Bleiben wir bei der Daumenprobe und schauen uns das jeweils letzte Gebot an. Auch hier muss ich bibeltechnisch wieder googlen. Hätten Sie’s auswendig gewusst? „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist.“ Das war jetzt die Kirche. Und was sagt der „Knigge“, Gebot Nr. 99, dazu? „Du sollst das Leben in vollen Zügen genießen!“ (Nein, weil es ein Schweizer Buch ist: „geniessen“.) Hm … Das scheint mir doch ein ziemlicher Widerspruch zu sein. Nichts begehren, aber alles voll genießen?! Das wird gerade etwas schwierig, wenn man so tugendhaft ist, dass man beiden Institutionen folgen möchte … Vielleicht rettet einen (solchen) ja das 10. Gebot im „Pendler-Knigge“ aus diesem Dilemma: „Du sollst dein Gepäck an den dafür vorgesehenen Orten verstauen.“ – Ich verstehe! Also soll ich nicht den Ort oder Platz begehren, an dem mein Nächster sein Gepäck verstaut hat. Das lässt sich machen.
Den 99 „Pendler-Geboten“ möchte ich hier noch ein weiteres hinzufügen: „Du sollst nicht ausplaudern deiner Nächsten 96 andere Gebote!“ – neudeutsch auch als „Spoileralarm!“ bekannt.
Nein, nein!, das mache ich natürlich nicht; will ja kein Spielverderber sein, neben dem dann im nächsten Zug keiner mehr sitzen will … Wenn ich überhaupt an dieser Stelle schon etwas zu nörgeln habe, dann sind das die eingestreuten „Schweizerismen“ (ist halt ein Buch aus der CH), die das Verstehen manchmal erschweren, wenn man auf der anderen Seite des Bodensees wohnt. Oder ist „aptal“ am Ende gar nicht Schwyzerdütsch, sondern Türkisch (siehe Gebot Nr. 58)?!
Neugierig geworden auf die 99 Gebote und dazugehörigen Extras?! Ich habe auch noch längst nicht alle gelesen, aber ich lege gleich mal los – und dann melde ich mich vielleicht nochmal, aber merke: „Du sollst in einer Fremdsprache nur über Dinge sprechen, die du auch auf Deutsch erzählen würdest.“ – Geht klar!
(Katja Walder/Daniel Müller, Der Pendler-Knigge. 99 Gebote für den ÖV. Zürich: Beobachter-Edition in der Axel Springer Schweiz AG, 2018)