Eins muss klar sein: Dieses Hörspiel über Gewalt im Straßenverkehr sollten SIE nicht hören, während Sie selbst unterwegs sind. Ich habe das gemacht — und … das war NICHT gut. Zum einen wird man dauernd von den Verkehrsgeräuschen irrtiert … War das jetzt echt oder kommt das ausm Radio?! Zum anderen bin ich beim Zuhören selbst immer aggressiver geworden. Wenn es die Intention der Hörspielmacher war zu zeigen, dass Gewalt Gegengewalt erzeugt, dann ist es ihnen perfekt gelungen!
Seit ich das Hörspiel zur Ablenkung (!) aufm langen Wochenendpendlerweg zur Arbeit gehört habe, sind schon wieder einige Arbeits- und Freitage vergangen. Vielleicht ist das auch gut so, denn so bleibt nur das hängen, was wirklich wesentlich für mich war.
Für mich gibt es in „Tote Winkel“ — so heißt das Hörspiel übrigens — eigentlich zwei Hauptpersonen: Das ist zum einen ein junger Familienvater und Radfahrer, der vordergründig sehr angepasst ist und „law and order“ normalerweise zu schätzen weiß. So ein typischer Grünen-Wähler und Teilzeitmoralapostel, der für seine Wege gern das Auto stehen lässt und sich mit der ordentlich verSTAUten Vorzeigetochter aufm Rad durch den Straßenverkehr kämpft. „kämpft“ ist ein gutes Stichwort, denn ab und zu gehen mit dem jungen Mann die Pferde — bzw. die eine Pferdestärke — durch, wenn er sich über andere Verkehrsteilnehmer, die sich seiner Meinung nach unbotmäßig verhalten, so sehr ärgert … nein: ärgern muss, dass er schon mal auf ein Autodach schlägt. Nur so. Um den Gegner (der zu diesem Zeitpunkt noch kein Unfall-, aber immerhin schon ein Gegner ist) zu maßregeln. Verhält sich dieser nun unauffällig und akzeptiert die Ermahnung, kann das Ganze dann auch enden. Lässt er sich die Maßregelung jedoch nicht gefallen, kann es auch schon mal, im Beisein der mitgeführten Tochter, zu einem handfesten Streit oder sogar einer Prügelei kommen.
Deshalb sitzt der junge Mann nun einer Verkehrspsychologin gegenüber, die versucht, der „Gewalt im Straßenverkehr“ und gleichermaßen der Angepasstheit im Alltag auf die Spur zu kommen, natürlich zum Wohle des jungen Mannes, den sie auf den Weg der Tugend zurückbringen möchte — notfalls auch gegen dessen Willen und Einsicht.
Abgesehen von dem jungen Mann kommen noch ein paar andere (nur) vermeintlich harmlose Verkehrsteilnehmer zu Wort, die sich, ist der Lack einmal abgekratzt, schnell zu handfesten und -greiflichen Verkehrsrowdies entwickeln können … Übrigens gibt es das Phänomen „Rowdy“ durchaus auch in der weiblichen, nicht minder martialischen Form.
Aber mein eigentlicher Held ist der abgebrühte Polizist Hegenbarth, der authentisch zu sein scheint. Den gibt es anscheinend tatsächlich. Seit Jahren hat er es mit Gewalt gegen Menschen und Sachen im Straßenverkehr zu tun. Das reicht bis hin zu vorsätzlicher Brandstiftung bei Autos, gar nicht so selten als nachträgliche Erziehungsmaßnahme durch einen der Kontrahenten, vermutlich des unterlegenen, gedacht …
Hegenbarth beschreibt seelenruhig, was es alles gibt, aber nicht geben sollte, zumindest nicht unter zivilisierten Menschen, aber eben diese Eigenschaft spricht man den Verkehrsteilnehmer/innen spätestens nach dem Hören dieses Hörspiels — oder nach der nächsten eigenen Fahrt — ab.
Die gefährlichen „toten Winkel“, die diesem dokumentarisch angehauchten Hörspiel und Lehrstück ihren Namen geben, lauern überall — und mit Verkehrsregeln und guten Worten ist ihnen offensichtlich nicht beizukommen. Ausgeleuchtet wird hier nur die dunkle Seite der „Marke Mensch“ …
„Tote Winkel“ — Hörspiel von Hermann Bohlen (C) WDR 3, 2019; gesendet am 01.06.2019; 51:20 min.; Link bis Mitte 2020: https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-hoerspiel/tote-winkel-download-102.html