Der Liebesstau (komplett)

Mittwochabend, 17 Uhr. Schon beim Auffahren auf die A5 weiß ich, dass ich mich falsch entschieden habe. Ich hätte mit dem Zug nach Hause fahren sollen, denn schon auf dem „Beschleunigungsstreifen“, der heute mal wieder seinen Namen nicht verdient, stauen sich die auffahrenden Fahrzeuge in Doppelreihe. Klar, morgen ist Feiertag!, da fahren alle, die fahren müssen.

Genau deshalb wollte ich auch nicht mit der Bahn fahren. Ich hasse volle Züge noch mehr als volle Autobahnen.
Nützt ja nichts! Ich habe gute Musik dabei und freue mich auf den Männerabend an meinem Wohnort Kassel. 20 Uhr, das müsste ich eigentlich schaffen. Normalerweise dauert die Fahrt nicht länger als zwei Stunden, mit Stau dann also vielleicht ein Stündchen länger, kommt hin.

Obwohl die Woche nur drei Arbeitstage hatte, war sie enorm stressig. Und so fühle ich mich auch. Gestresst. Die drei Tage an meinem Arbeitsort zählen fast für fünf, so lang ging es abends. Und dann war ich so aufgedreht, dass ich nicht einschlafen konnte, sodass mir auch jede Menge Schlaf fehlt. Naja, kann ich am verlängerten Wochenende zuhause in Kassel nachholen, und am Freitag mache ich Brückentag, da kann ich ausschlafen.

Ich bin endlich aufgefahren und drehe die Musik lauter. Zäh. Sehr zäh. Ein Auto und ein Lkw am anderen, in Dreier- oder Viererreihen … Ich kann mich schlecht auf den Verkehr konzentrieren, fahre viel zu nah auf und muss zwei Mal fast eine Vollbremsung machen um dem vorweg fahrenden SUV nicht aufzufahren. Der Fahrer, laut Kennzeichen ebenfalls ein Nordhesse, reagiert beim zweiten Mal entsprechend gereizt und schaltet die Warnblinkanlage an. ,Is‘ ja schon gut!‘, knurre ich und weiß natürlich, dass er recht hat. Also wechsele ich schuldbewusst die Spur und lasse mich zurückfallen um ihn loszuwerden.

Während ich abwechselnd laut aus mir hinaus und leise in mich hinein fluche, hat sich der „zäh fließende Verkehr mit Stillstand“ zu einem handfesten Stau verdichtet. Stop and Go. Stop and Go. Aber eigentlich mehr Stop als Go und rote Bremslichter, wohin man schaut. Die mitgebrachte Musik fängt an zu nerven und ich schalte um aufs Radio. SWR3, die mit dem Elch.
Ich wechsele ständig die Spuren um einen minimalen Vorsprung herauszuholen. Linke Spur, mittlere Spur. Nur die rechte lasse ich weg; die gehört sowieso den Lkws. Natürlich funktioniert das nicht mit dem Spurenwechseln und ich sehe immer wieder dieselben Fahrzeuge und Leute neben mir. Die holländische Familie mit den fünf Fahrrädern (zwei aufm Dach und drei Kinderfahrräder hinten drauf aufm Träger) fährt jetzt schon zum dritten Mal an mir vorbei, und mittlerweile kenne ich die Farben der herausgestreckten Zungen der drei Kinder auf der Rückbank und habe keine Lust mehr zurückzuwinken. Stop and Go. Stop and Go. Stop.
Rechts von mir taucht ein Auto auf, das mir bisher noch nicht aufgefallen ist. Ein schnittiger asiatischer Kleinwagen in knalligem Rot. Den hätte ich vorher bestimmt gesehen, wenn. Am Steuer sitzt eine Person, die rhythmisch aufs Lenkrad trommelt. Am Takt erkenne ich, dass sie – es ist eine Frau – offenbar dieselbe Musik hört wie ich. Das ist ja lustig. Ich schließe auf und blicke ins Innere des Wagens. Wow!, die sieht ja hübsch aus, die Lady! Sie dürfte so etwa Ende 30 sein und hat lange dunkelblonde Haare.

Die Haarfarbe sieht echt aus. Sie trägt eine unspektakuläre Sonnenbrille gegen die Abendsonne und blickt unbeirrt geradeaus. Und trommelt weiter.
Vor lauter Nach-rechts-Starren wäre ich dem vorausrollenden Fahrzeug beinahe aufgefahren. Mensch!, ich muss mich jetzt aber echt mal zusammenreißen. Jetzt komme ich unmittelbar neben der dunkelblonden Fahrerin zum Stehen. Ich fange an, übertrieben heftig und gestenreich auf mein Lenkrad einzutrommeln. Das müsste sie doch eigentlich bemerken. Tut sie auch. Sie blickt kurz nach links und muss ein bisschen grinsen. Glaube ich zumindest. Und schon rollt sie weiter, während auf der linken Spur Stillstand herrscht. Mist! Ich verzichte auf das ständige Spurenwechseln und hoffe auf Bewegung in meiner Spur. Endlich kann ich zu ihrem roten Flitzer aufschließen. Eigentlich könnte ich jetzt sogar vorbeiziehen, aber ich lasse mich zurückfallen und rolle genau auf ihrer Höhe weiter.
Sie guckt nochmals kurz zur Seite und schiebt – das kann doch nur Absicht sein – ihre Sonnenbrille hoch. Blaue Augen!, das kann ich erkennen.
So geht es noch eine ganze Weile weiter. Sie schaut, jetzt wieder mit der Brille auf der Nase, nach vorn und viel zu selten zur Seite, trommelt und swingt ein bisschen im Takt der Musik. Und plötzlich geht es weiter.
Ich weiß nicht, wie mir das passieren kann, aber ich verliere ihr Auto aus den Augen. Ist sie jetzt vor mir oder hinter mir? Soll ich Gas geben um sie noch einzuholen – oder mich zurückfallen lassen, damit sie zu mir aufschließt?
Eine Weile mache ich unentschlossen erst das eine, dann das andere, dann wieder das eine … Aber es ist sinnlos. Ich sehe sie nicht mehr und wundere mich selbst über die Enttäuschung, die ich empfinde. Und kann nicht aufhören, nach ihr Ausschau zu halten. Inzwischen hat die Abenddämmerung eingesetzt und ich habe noch etwas über eine gute halbe Stunde zu fahren. Der Stau hat sich in nichts aufgelöst. Wenn ich jetzt weiter so durchkomme, schaffe ich es locker zum Männerabend. Aber ich muss aufs Clo und Durst habe ich auch.
Also setze ich den Blinker und fahre an der nächsten Raststätte raus. Hier war ich noch nie, denn sie ist mir eigentlich viel zu nah an zu Hause. Als ich an der Tankstelle vorbei Richtung Rasthaus fahre, durchfährt mich ein Blitz. Da steht er, der knallrote Kleinwagen. EU. Ich schaue aufs Nummernschild und sehe erst jetzt, dass es sich wohl um einen Mietwagen handelt. Der dezent angebrachte EAN-Code bestätigt das. Also erstmal nicht aufs Clo. Ich stelle mein Auto ab und gehe in die Raststätte und suche jeden Winkel des Restaurants nach der blauäugigen Fahrerin des roten Wagens ab. Gleichzeitig versuche ich, den Ausgang der Toiletten im Auge zu behalten, falls sie von dort kommt.
Nichts zu machen. Sie ist nirgends zu entdecken. Inzwischen muss ich wirklich dramatisch dringend aufs Clo und sehe ein, dass ich das Suchen abbrechen muss. Ich gehe schnell zur Toilette und beeile mich.
Wieder nichts. Als ich das Rasthaus verlasse ohne mir etwas zu trinken gekauft zu haben, muss ich feststellen, dass der Parkplatz, auf dem der rote Wagen gestanden hat, leer ist. Mist! Sie ist weg. Und zum Männerabend komme ich jetzt auch zu spät.

Es ist mir selbst unheimlich, aber ich kann sie nicht vergessen. Dabei hat sie doch noch nicht mal mit mir geflirtet. Ich weiß, dass es verrückt ist, aber an den folgenden Freitagen halte ich auf dem Rückweg nach Hause auf der Autobahn ständig nach ihr Ausschau. Was ja zusätzlich sinnlos erscheint, weil sie einen Leihwagen gefahren ist. Was nur bedeuten kann, dass sie die Strecke nicht regelmäßig fährt – und schon gar nicht immer zur selben Zeit, vorm Wochenende. Vier Wochen, fünf Wochen geht das so. Ich suche sie überall – und weiß noch nicht einmal, nach welchem Wagen ich suchen soll. Ich halte jedes Mal an dem Rastplatz an, immer ungefähr um die Uhrzeit, an der ich dort ihren Wagen gesehen habe. Dort halte ich mich bis zu einer Stunde lang auf und beobachte den Parkplatz und das Restaurant, mit dem Eingang zu den Toiletten im Augenwinkel. Wie bescheuert.
In der sechsten Woche dasselbe. Als ich mich eine halbe Stunde im Restaurant herumgedrückt habe und gerade gehen will, öffnet sich die automatische Schiebetür – und sie kommt hinein. Jetzt sehe ich, dass sie auch Beine hat, sehr schöne sogar. Sie ist nicht besonders groß, aber ihre Beine sind im Verhältnis zum Oberkörper lang und dünn und gut geformt. Sie trägt einen einfarbigen Rock, der ihr bis zum Knie geht, und darunter sehe ich schwarz bestrumpfte schlanke Waden und schmale Fesseln. Die Schuhe sind überraschend flach. Ich hatte im Stillen etwas Hochhackiges erwartet.
Sie bemerkt mich nicht, wühlt in ihrer Handtasche und zieht ein großes Portemonnaie heraus. Dann biegt sie nach rechts Richtung Sanifair-Toiletten ab. Mein Herz rutscht mir in die Hose und klopft dort bis zum Hals.
Was soll ich denn jetzt machen?! Ich habe nicht mehr viel Zeit zum Überlegen. Jeden Moment kann sie vom Clo zurückkommen. Diese Chance bekomme ich kein zweites Mal, das ist mir klar. Ich muss sie ansprechen. Ich bin so nervös, dass mir kein Vorwand einfällt. Und erst recht kein origineller. Also Flucht nach vorn.
Ich stelle mich am Ausgang der Toiletten auf und tue so, als würde ich in meinem Rucksack etwas suchen. Ich senke den Blick, blinzele aber so von unten nach oben, dass ich die herauskommenden Leute gut sehen kann.
Da kommt sie! Sie hält den Sanifair-Wertbon in der linken Hand und fährt sich mit der rechten durch die dunkelblonden Haare. Gleich wird sie auf meiner Höhe sein.
„Ähm … entschuldigen Sie!“, bringe ich mühsam heraus, „wir kennen uns!“ Ich kann selbst hören und geradezu körperlich spüren, wie saublöd das klingt. Und meine Stimme ist irgendwie höher als sonst und zittert im Takt mit meinen feuchten Händen.
Sie schaut kurz auf und ich meine den Hauch eines Interesses oder einen Anflug von Neugier in ihren Augen zu erkennen. „Ach so?!“, sagt sie irgendwo zwischen höflich und gleichgültig. Ihre Stimme ist tiefer als ich dachte. Klingt aber schön. Ich finde es erotisch, wenn Frauen nicht solche Piepsstimmchen haben.
„Ja!“, bestätige ich eifrig, „wir haben uns vor kurzem im Stau hier auf der Autobahn getroffen.“
„Okay“, sagt sie und zuckt mit den Achseln, „na dann …!“ Und will weitergehen. Jetzt muss ich alles auf eine Karte setzen. „Hätten Sie vielleicht Lust, einen Kaffee mit mir zu trinken?“, frage ich und staune über meinen Mut. Meine Stimme hört sich gar nicht mehr so übel an. Normalerweise kann ich mit ihr immer ganz gut punkten.
„Nö, danke!“, sagt sie kurz. „Ich hab‘ keine Zeit!“
Ich muss sehr enttäuscht ausgesehen haben. Jedenfalls guckt sie mir zum ersten Mal richtig ins Gesicht und fügt hinzu: „… und meine Kinder warten im Auto.“
Mir fällt innerlich und vielleicht auch nach außen sichtbar die Kinnlade herunter. „Ihre Kinder … ähm … ach so.“ Was eine ziemlich dämliche Äußerung ist.
„Ja, genau!“, sagt sie. „Dann noch eine gute Fahrt Ihnen!“ Und weg ist sie. Die automatische Schiebetür öffnet sich mit einem Zischen, sie geht hindurch und ist verschwunden.
Ich habe nicht einmal mehr die Energie, ihr nachzugehen um zu schauen, mit welchem Auto sie unterwegs ist und ob das mit den Kindern überhaupt stimmt. Ich fühle mich wie ein prall gefüllter Luftballon, aus dem man mit einem Piekser die Luft herausgelassen hat.
Es dauert noch einige Wochen, bis ich die Strecke wieder fahren kann, ohne nach ihr Ausschau zu halten. Wenn ich die Autobahn nach ihr absuche, suche ich idiotischerweise nach einem roten Kleinwagen, obwohl ich doch weiß, dass ihr der gar nicht gehörte. Und überhaupt ist sie bestimmt eine ganz blöde Zicke, wenn man sie näher kennen lernt.

3 Kommentare

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