Den „Schaden in der Oberleitung“ von Arno Luik wollte ich eigentlich schon längst rezensiert haben. Aber wie das halt so ist mit den durchaus ernstgemeinten „Absichtserklärungen (in) der vollendeten Gegenwart“ – irgendwann verselbstständigen sie sich, und man meint, man habe das Beabsichtigte bereits längst erledigt …
So ging es mir auch mit diesem Buch, das nun schon ca. anderthalb Jahren (wirklich schon so lange?!) in meiner „Noch zu rezensieren“-Kiste lag.
Im Zuge des zweiten Lock- oder auch Shutdowns und bei jahreszeituntypisch schlechtem Wetter fiel mir das Buch (gespickt mit lauter Markierungshaftnotizen) jetzt wieder in die Hände und ich überlegte, was ich eigentlich „seinerzeit“ nochmal genau dazu geschrieben hatte … So kam’s raus!
„… geschrieben haben wollte“! Ich hatte noch gar nichts dazu geschrieben, aber als ich das Buch nun wieder in den Händen hielt, fiel mir schlagartig wieder ein, was ich hatte schreiben wollen.
Genug der Absichtserklärungen! Jetzt schreibe und poste ich es endlich und tatsächlich.
Genau so war es gewesen: Ausgebremst hatte mich beim ersten (Fehl-)Versuch die Tatsache, dass ein anderer Rezensent, der schneller gewesen war als ich, aus den knapp 300 Seiten just die Stelle zum Zitieren herausgesucht hatte, die ich auch hatte zitieren wollen, und das, obwohl sie für das Buch ziemlich untypisch ist. Vielleicht war genau das ja auch die Motivation des anderen Rezensenten (ich muss ihn nochmals googlen) gewesen?!
Egal, mit dem heutigen Abstand nehme ich das als Beweis dafür, dass es eben genau die Stelle ist, die zitiert werden sollte und sich offenbar aufdrängt.
Arno Luik, dem sachkundigen Journalisten und Autor des Buches, ist wohl vollständig bewusst, dass es sich um einen Exkurs handelt, nennt er den Abschnitt doch selbst „Ein kleiner Einschub“, um dann im selben Atemzug höflich und fast entschuldigend (rhetorisch) zu fragen: „Darf ich mal zurückschauen?“
Darf er! … und nach all den Eklats, Skandalen und Ungeheuerlichkeiten, die dieser Stelle auf Seite 178 schon vorausgegangen sind und bis zum Ende des Buches auf Seite 293 noch folgen werden, ist der kleine „Umweg“ geradezu eine Erleichterung und Befreiung. – Atmen Sie also tief durch, lehnen Sie sich in Ihrem mehr oder weniger funktionsfähigen Sitz zurück und nehmen Sie sich diese gedankliche Auszeit.
Darf ich mal zurückschauen, ohne dass gleich jemand schreit: Nostalgie?
Die nach 1980 Geborenen haben keine Vorstellung, wie umfassend der Service der Bundesbahn einmal war. Sie wissen nur, das ist ihnen beigebracht worden, dass es eine verschnarchte Beamtenbahn war, also igittigitt. Aber diese alte Beamtenbahn war nicht so verschnarcht, dass Verspätungen und Zugausfälle der Normalfall waren. Diese Bahn fuhr pünktlich.
Nur so nacherzählt, eine schnelle Zeitreise, sagen wir 1979: Der Eilzug fährt ein, der letzte Wagen ist ein Gepäckwagen, ein Fahrrad wird ausgeladen, Postler geben Pakete ab, nehmen Pakete mit, es hieß Stückgut, Eilgut, Frachtgut – und am nächsten Tag waren die Dinge dort, wo sie sein sollten, schnell und ökologisch, das klappte alles, mühelos auch mit dem Ausland.
Wollte man eine Fahrradtour in einer gottverlassenen Gegend Italiens oder Ungarns machen: Man gab das Rad eine Woche vor dem Urlaub auf, stieg dann am Zielort aus – und dort stand dann das Rad.
Mit Nachtzügen konnte man problemlos und günstig durch ganz Europa reisen, sogar in den Osten.
Es kam auch nie vor, dass Züge komplett ausfielen, dass sie in der falschen Reihung an den Bahnsteigen einliefen. Und es kam schon gar nicht vor, dass ganze Bundesländer wegen Schneefalls oder wegen Stürmen komplett vom Bahnverkehr abgehängt wurden, wie es inzwischen häufig der Fall ist.
Es schneite? Egal. Weichen vereist? Die Winter waren damals härter und länger, aber die Loks hatten keine Probleme damit, sie waren ordentlich gewartet, und die Weichen (es gab damals noch viel mehr) wurden rechtzeitig von Schnee und Eis befreit. „Störungen im Betriebsablauf“? Es gab so gut wie keine, man kannte das Wort nicht mal.
Und wenn eine Lok mal nicht weiterkam: Auf allen größeren Bahnhöfen standen Ersatzloks und Ersatzwagen zur Verfügung.
Auch das gab es nicht: dass ganze Strecken über Hunderte von Kilometern wegen Reparaturarbeiten monatelang gesperrt wurden. Repariert wurde unterm „laufenden Rad“, also während der Verkehr weiterlief, nahezu unbemerkt von den Reisenden. Verspätungen gab es wegen Reparaturarbeiten so gut wie nie – Ausweichgleise und genügend Weichen sorgten für einen reibungslosen Verkehr.
Mit Kurswagen erreichte man, ohne umzusteigen, selbst von kleinen Städten abgelegene Städte, auch im Ausland. Kurswagen, diese geniale Erfindung der Bahn, gibt es fast nicht mehr, heute nur noch auf zwei Strecken, das Wort „Kurswagen“ ist fast ausgestorben. Der heutigen Bahn fehlt das Wissen und die Technik und die Gleisanlagen, um Kurswagen auf ihren Schienen fahren zu lassen. […]
Aus: Arno Luik, Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn, Frankfurt: Westend Verlag 2019, Seite 178 f.
Hier könnte man nun vieles hineininterpretieren und weiterspinnen, aber das ist nicht meine Aufgabe als Rezensentin und somit eher „Chronistin“. Wenn Sie das ganze Buch lesen möchten – was sich 1.) lohnt und 2.) dem Glauben an die Menschheit und deren Überlegenheit gegenüber dem Tierreich abträglich ist (dies war ein Warnhinweis) – seien Sie noch ein weiteres Mal gewarnt: Dieser Ausschnitt, der sich herunterratternd wie das unnachahmliche Schienenrattergeräusch liest wie „geschmiert“ (was die Bahn heutzutage offenkundig nicht mehr ist bzw. wird), gibt *nicht* den Inhalt des gesamten Buches repräsentativ wieder, aber das behauptet ja auch niemand – für Behauptungen sind andere zuständig.
Ach, halt! bzw. „Nächster Halt!“, eines dann doch noch, bevor wir wieder aussteigen: Ebenso bedenkenswert wie bedenklich ist übrigens auch der Satz „Man reist nicht, man wird transportiert“ (Seite 184), und „Giraffen gucken aus dem Zug“ (Seite 204 f.) ist, finde ich zumindest, eine weitere Episode, die Lust macht auf Mehr, falls Sie die nicht schon längst bekommen haben?! Dann kaufen Sie sich, online oder ganz nostalgisch „am Schalter“, ein Billet und fahren/lesen Sie los, falls ein „Schaden in der Oberleitung“ dies nicht gerade verhindert.