Ich habe es extra nochmals nachgegooglet.
Sind es wirklich 99 % der DNA, die bei allen Menschen auf der Welt gleich sind?!
Neunundneunzig Prozent?!

Google ist da sehr eindeutig: „99 Prozent unserer menschlichen Erbinformationen sind identisch. Nur ein Prozent der DNA macht den Unterschied. Es entscheidet, wie wir aussehen, welches (biologische) Geschlecht wir haben, welche Krankheiten wir bekommen und wie risikobereit wir sind.“, besagt ein neuerer Eintrag.

Und doch ist es gerade das verbleibende eine Prozent, das darüber entscheidet, ob und wie sehr uns die Menschen, die uns begegnen, „fremd“ oder „anders“ erscheinen. Dieses lächerliche eine Prozent macht es aber eben auch spannend.

Kannst Du Dir vorstellen, dass es ein Land und eine Sprache gibt, in der kein Wort für „vermissen“ existiert?! Und wenn das Wort nicht existiert, gibt es vermutlich auch kein Konzept von dem schmerzlichen Gefühl des „Vermissens“. Vermute ich zumindest, denn sowohl das Land, um das es hier geht, als auch dessen Sprache sind mir ziemlich „fremd“ – 99 % gleiche Erbmasse hin oder her.

Die Rede ist von – Japan, dem „Land der aufgehenden Sonne“. Die aufgehende Sonne kennen wir nicht zuletzt durch die japanische Flagge … ein feuerroter Ball auf weißem Grund. Sonst nichts.
Puristisch. Minimalistisch. Auf das Wesentliche konzentriert.

Zum Wesentlichen scheint aber nicht das „Vermissen“ zu gehören, das es, glaubt man der Autorin dieses Buches, als „Vokabel“ so nicht gibt. „Vermissen auf Japanisch“, so der Titel ihres Buches, muss also irgendwie anders sein und gehen, als wir es in Mitteleuropa gewöhnt sind.

Wir können andere Menschen vermissen. Oder das Geräusch des Meeres. Oder ein bestimmtes (Mit-)Gefühl von Freude. Oder ganz profan etwas Leckeres zu essen, das wir schon länger nicht mehr gegessen haben. Aber vor allem sind es natürlich Menschen, die wir vermissen (können). „Ich vermisse dich so sehr!“ – „Du fehlst mir so!“

Da geht es doch schon los! Ist „jemanden vermissen“ dasselbe, wie wenn mir „jemand fehlt“?!
In gewisser Weise schon. Weil die Person mir fehlt, stellt sich das Gefühl eines Mangels und einer Leere und einer Sehnsucht ein … Der Platz, den die Person in meinem Leben und in meinem Herzen eingenommen hat, ist leer und wird es auch eine Weile oder sogar für immer bleiben.

All das soll es in Japan und auf Japanisch nicht geben?! Und weil es nicht vorkommt, gibt es auch kein Wort dafür?! Das wäre immerhin konsequent … und radikal.

Und jetzt ein ganzes Buch nur über das Vermissen des Vermissens?!
So scheint es zu sein, denn genau so beginnt der Roman. Dabei hätte Kyoko allen Grund zum Vermissen, ist doch gerade ihr amerikanischer Ehemann Levi gestorben und hat sie und ihren kleinen Sohn mit der Aufgabe zurückgelassen, wieder auf die Beine zu kommen und das Leben in den Griff zu kriegen. Doch Kyokos Familie lebt auf der anderen Seite des Ozeans, in einem Inselstaat, dessen Sprache das Wort „vermissen“ abhanden gekommen ist oder niemals darüber verfügte.

Doch zum Glück gibt es ja, einmal mehr, “the kindness of strangers“ bzw. Menschen außerhalb der eigenen „Kernfamilie“, allen voran die schräge Schwiegermutter Bubbe, die zwar nicht alles versteht, was in Kyoto vorgeht, aber für alles Verständnis hat – und manchmal auch ein abgedrehtes Rezept gegen Trauer, Einsamkeit und Wut.

Das „Vermissen auf Japanisch“ ist in vier Teile aufgeteilt, die da, notdürftig übersetzt ins Deutsche, heißen:
Bruch – Strudel – Schnittstelle – Emergenz. Strange enough!
Auf Japanisch (aber in lateinischer Schrift>) lauten die vier Bereiche/Teile:
haretsu – uzu – kaimen – souhatsu

Wer noch tiefer eintauchen möchte in die japanische (Schrift-)Sprache, findet jeweils bei den Namen der vier Teile die wunderschönen, wenn auch für mich undurchdringlichen Schriftzeichen dazu, die dreimal aus zwei Bestandteilen und einmal („uzu“) aus nur einem Schriftzeichen zusammengesetzt sind.

Die Titel der einzelnen Kapitel sind auf den ersten Blick ein wenig „unzugänglich“. Ich nenne mal pro Teil zwei davon, damit Ihr eine Ahnung davon bekommt, was ich meine:

haretsu:
Vermisst: Adjektiv; abwesend – siehe: verloren     11
Würdest du mir sagen, was ich will?      28

uzu:
Im Winter lächle ich im kalten Regen      65
Nukegara      85

kaimen:
Die US-Regierung will, dass ich lebe      144
Ich hörte, wie mein Sohn ein Mädchen küsste      169

souhatsu:
Ein fehlender Zeh      195
„Rosarote Spinnenlilie“      244

… und das letzte Kapitel überhaupt heißt: Es gab einen Moment
Ein Satz, den ich unwillkürlich zu Ende führe, z.B. so: „…, in dem ich nicht wusste, wie es weitergeht“; „… in dem ich dachte, es sei alles vorbei“, „… an dem die Erde stillstand“

Yukiko Tominaga, die seit 2004 in den USA lebt, hat ihren Debütroman übrigens nicht auf Japanisch verfasst, sondern auf Englisch – also in einer Sprache, die ein Konzept von „vermissen“ hat und auch ein oft gehörtes Wort dafür. Das aber wiederum zumindest doppeldeutig ist, denn “to miss“ heißt nicht nur „etwas oder jemanden vermissen“, sondern auch „etwas verpassen“.
Ich hätte mir gewünscht, dass der Roman in der „Originalsprache“, Japanisch, geschrieben worden wäre. Sicherlich wäre er dann, trotz Übersetzung, schwieriger zugänglich gewesen, aber es ist fast ein bisschen schade, dass die Autorin (ebenso wie ihre autobiografisch „angehauchte“ Titelheldin) durch „Creative Writing“-Seminare an der US-amerikanischen Uni sozusagen „amerikanisiert“ wurde. Mir hätte der „original taste“, auch in der Sprache und deren Gedankenwelt, gut gefallen …

Nun kommen wir bei „Vermissen auf Japanisch“ allerdings aus der angloamerikanischen Sprachwelt, in der es mit „to miss somebody or something“ sowohl für das Vermissen als auch für das Verpassen ein (und dasselbe) Wort gibt. Im englischsprachigen Original heißt das Buch übrigens: See: Loss. See also: Love. — Wie diese beiden existenziellen Dinge und wie „to lose“ und „to miss“ im Kern zusammenhängen, darüber könnte Yukiko Tominaga wahrscheinlich noch ein eigenes Buch schreiben. Vielleicht macht sie das ja noch, während sie versucht, verlorene Liebe wiederzufinden.
Wer zu viel verpasst oder verliert im Leben, hat schließlich im Umkehrschluss mehr zu vermissen, wenn etwas fehlt, nie da war oder schlicht unterwegs verloren gegangen ist …

Yukiko Tominaga, Vermissen auf Japanisch. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Juliane Zaubitzer. Hamburg: mareverlag 2025. EUR: 24,00; ISBN: 978-3-86648-716-1