„Ein Sommer in Baden-Baden“ … Das lässt Assoziationen und Gefühle nur so sprießen bei mir.
Nun liegt diese leuchtend rote Hörbuch-CD, bestehend aus fünf Einzel-CDs, schon einige Tage recht prominent auf meinem Schreibtisch, bereit zum Rezensieren, aber … ich mache bzw. wage mich einfach nicht heran.
Eigentlich stimmt alles!
Und das – ich gebe es unumwunden zu – liegt nicht an ihr (der CD), sondern eindeutig an mir, denn: Eigentlich stimmt hier alles: Der Autor des Hörbuchs, Leonid Zypkin, dessen Held, ein junger russischer Intellektueller, auf dem Weg nach Leningrad ist, und zwar in einem Nachtzug (hallooooo, liebes PendlerInnenherz, was willst du mehr?!), und zwar auf den Spuren von Fjodor Dostojewskij – und ein zweiter Zug ist ,1867, in genau der entgegengesetzten Richtung unterwegs … das jung verheiratete Ehepaar Fjodor Dostojewskij und Anna Grigorjewna ist auf dem Weg nach Baden-Baden, wo sich schon so mancher (nicht nur Russe) im Spielkasino um Kopf und Kragen gebracht hat.
Damit nicht genug wird das Hörbuch gelesen von Sylvester Groth, den ich als Schauspieler sehr mag, sodass es mich wirklich interessiert, wie er das bei einer Lesung „auf die Bühne kriegt“.
Doch es geht noch weiter! Empfohlen hat den Roman keine Geringere als Susan Sontag, und dies mit äußerst euphorischen Worten:
„Ein Sommer in Baden-Baden – das ich heute zu den schönsten, anregendsten und originellsten Werken des letzten Jahrhunderts zählen würde […]“
¡Phew! Mehr geht nicht, oder?!
Und jetzt kommt noch erschwerend hinzu, dass ich … ja, ich weiß, das ist völlig irrational … Baden-Baden liebe, obwohl oder vielleicht auch, gerade weil ich es ein bisschen kenne.
Jaja, schon gut, es hat einen ungewöhnlich hohen Altersdurchschnitt und eine vergleichsweise hohe Zahl von, nennen wir es mal so: wohlhabenden, qualitätsbewussten Menschen unter seinen Einwohnern – und: Stimmt!, einige davon sind oder zumindest waren Russen. Man sieht in Baden-Baden mehr Porsches und mehr fette SUVs als in Castrop-Rauxel, und Anna Netrebko war auch schon häufiger hier als dort. Es ist stellenweise dekadent und vielleicht sogar versnobt, aber … Entschuldigung!, wenn Sie so eine wunderbare Lage und ein solch angenehmes Klima hätten und derart schön wären, hätten Sie vielleicht auch einen Hang zum Elitären!
Aber es gibt noch etwas, was mich vom Rezensieren abhält. Etwas weniger Elitäres, sondern rein Praktisches: Die ungekürzte Lesung dauert sage und schreibe 331:01 Minuten. Jetzt kann ich das, und schon gar nicht um diese Uhrzeit, auf die Schnelle nicht spontan 1:1 in Stunden umrechnen, aber, mir ist klar: Das ist viel! Es sind Stunden und Minuten, die mir im Moment, wo ich (Corona-bedingt) mangels Pendlerdasein keine Hörbücher im Auto höre, schlicht fehlen.
Außerdem ist das CD-Päckchen in Folie eingeschweißt, also noch versiegelt und somit eindeutig als neu ausgewiesen. Da ich es noch an jemanden verschenken möchte, der zu Baden-Baden und zur Literatur eine ähnlich irrationale Beziehung hat wie ich, mag ich das Siegel nicht brechen … noch nicht! Das ist dumm … vielleicht hätte ich mir den „Sommer in Baden-Baden“ doch besser als immaterielles und somit „niederschwelliges“ E-Book ins Haus holen sollen?!
Ich weiß doch eigentlich, dass ich dieser Sorte Mensch angehöre, die nicht gleich mit den nagelneuen Schuhen – die Preisetiketten kleben noch unter den Sohlen – aus dem Schuhgeschäft läuft und die alten in den Karton einpacken lässt.
Nein, wichtige neue Dinge (wie z.B. Bücher, Schuhe, Klamotten und CDs), die ich in mein Leben integrieren will, lasse ich immer eine Weile liegen. Ich gewöhne mich erstmal an sie. Sie müssen „Stallgeruch annehmen“. Ich möchte sie gern noch ein bisschen „schonen“, bevor ich sie benutze oder gar brachial „anbreche“.
Aha! Jetzt weiß ich, was hier läuft …
Und jetzt weiß ich es plötzlich! Ich verstehe, was los ist! … Ich habe R E S P E K T vor diesem Hörbuch! Das ist es. Ich möchte es noch eine Zeit lang „für gut“ halten und befinden, und das in doppelter Hinsicht. Es ist geradezu überfrachtet mit (hohen) Erwartungen. Dostojewskij — Baden-Baden — heißer Sommer — Züge, die in entgegengesetzter Richtung durch die Nacht fahren — selbstmordverdächtige Spielschulden — Susan Sontag — … und, vermutlich virtuos Klavier spielende, russische Intellektuelle mit halblangen, gewellten Haaren und waidwunden wilden Augenaufschlägen – dazu Sylvester Groths im wahrsten Sinne des Wortes „durchdringende“ Stimme, …
All das ist mir grad‘ noch a touch too much um es (sich) möglicherweise fahrlässig oder gar mutwillig zu zerstören oder zu verderben durch nicht erfüllte, weil überhöhte Anforderungen. Insofern bin ich der Plastikhülle ganz dankbar, dass sie mich noch eine Weile vom Aufreißen und „Entweihen“ ab- und fernhält und von den Inhalten und der zumindest denkbaren Desillusionierung trennt.
Doch der Tag ist nicht mehr weit! Es ist alles vorbereitet. An einem Morgen – spätestens im Hochsommer – werde ich die Plastikhülle beherzt aufreißen, ehrfurchtsvoll die erste CD aus der Hülle gleiten lassen und nach einem kurzen Durchatmen einlegen, hören … und dann auch schutz- und schonungslos rezensieren.
Lieber Sylvester Groth, lieber Hörbuch-Verleger Wolfgang Koch, habt bitte noch ein bisschen Geduld und Nachsicht mit mir. Es ist nicht wirklich eure Schuld bzw.: wirklich nicht eure Schuld. Ich melde mich im Sommer wieder, okay?
Спасибо! увидимся снова!