Bis zu den Rändern der Welt auf der Suche nach uns selbst. Die Schönheit alter Pilgerwege in Norwegen oder unbeleuchteter Gassen in Kairo, die Leichtigkeit Sandalen tragender Bergführer in Guatemala oder in der Sonne Portugals dösender Hunde, bizarre Nächte in Blackpool oder Tokio: Christian Schüle, Philosoph, Reisender, Flaneur und Wanderer, verbindet persönliche Erlebnisse beim Erkunden der Welt mit Reflexionen darüber, wie und warum das Fremde und Ferne ein so vorzügliches Mittel ist, sich selbst zu erkennen und die Welt wie die Zeit anders zu erleben. Sein ebenso faszinierendes wie inspirierendes Buch ist literarischer Roadtrip und philosophische Suche nach dem Sinn des Reisens zugleich.
So weit (gereist) also der Klappentext. Hört sich ja erstmal so an, als sei das Buch nicht ganz „verkehrt unterwegs“, obwohl ich bei dieser Aufzählung von klangvollen Rollen und Funktionen des Autors – Philosoph, Reisender, Flaneur und Wanderer (fehlt nur noch: „zwischen den Welten“) – schon gleich ein bisschen hellhörig, im Sinne von „misstrauisch“, werde.
Eigentlich passt das ja perfekt zu meinem Blog, bei dem ich selbsterklärtermaßen den Anspruch habe, nicht einfach nur zu berichten und zu beschreiben, geschweige denn wie ein Rohrspatz auf die Deutsche Bahn und die deutschen Autobahnen zu schimpfen (obwohl ich für beides Anlässe und Gründe genug fände), sondern immer auch das Meditativ-Philosophische des ewig Suchenden und Unterwegs-Seienden zu erfassen … Oha! Jetzt hätte ich mich doch beinahe vertippt und statt des „Seienden“ tatsächlich „Seiernden“ geschrieben, Freud lässt grüßen. What a difference a letter makes!
In der Tat sind die Grenzen zwischen mit und ohne „r“ aber hier fließend, denn ehrlich gesagt erscheint mir das Buch, zumal in diesen Zeiten der zeitenwendischen Reiseeinschränkungen und -beschwerlichkeiten doch ziemlich … nennen wir es … „prätentiös“ (um damit ein ebensolches Wort selbst zu benutzen).
Na ja, aber … Was würden SIE denn erwarten, wenn man Ihnen ein Buch vor die Nase halten würde, das den Titel „Vom Glück, unterwegs zu sein“ trägt und so aussieht?!
Ich für meinen Teil habe mich davon erstmal sozusagen „in die Irre führen lassen“, aber schon das Inhaltsverzeichnis lässt erkennen, welche Reiseroute und welcher Fahrplan im Inneren des Buchs, in insgesamt drei (Reise-)Etappen, gewählt wurde:
Teil 1 heißt „Zeit und Zufall“. Dahinter verbirgt sich aber eher mal eine Art „Lehranstalt“, denn die sieben Kapitel beginnen allesamt mit „Schule der …“ Als da wären: „Schule der Irrealität durch spätes Erwachen“, „Schule der Wahrnehmung durch lange Weile“, „der Gelassenheit durch Zeitverlust“, … Noch mehr davon?! Weiter geht es mit „Bildung durch das Unvorhersehbare“, „Geborgenheit durch das Unendliche“, „Demut durch die Macht des Meeres“ und schließlich „Mehrdeutigkeit in der Hitze der Nacht“.
Wer jetzt noch Kraft hat, kann sich im Teil „Wissen und Weisheit“ durch einen reich bestückten „Baum der Erkenntnis“ ,hindurchfuttern‘, denn die folgenden elf Kapitel halten – nachdem die Schule nun durchlaufen wurde – die folgenden elf Erkenntnisse von bzw. vom parat:
„Erkenntnis von der Macht der Nostalgie“, „Erkenntnis vom Sinn der Geschichte“, „vom Triumph des Traums“, „von der Weisheit durch Unwissen“, „von der Harmonie im Chaos“, „vom Scheitern als Sinn der Sehnsucht“ – na, können S’e noch?! Okay, dann her mit den weiteren Erkenntnissen:
„von der Umkehr durch Magie“ (es kann auch „der Magie“ gewesen sein), „der Eroberung des Eroberers“, dem „Irrsinn des Banalen“ (ich hätte hier ja „des Sinnsuchers“ erwartet), dem „Schutz durch höhere Mächte“ bis hin zum „Glück, unterwegs zu sein“ (aha!, der Titelsong!).
So! Eine Etappe hätten wir noch vor uns! Es wird wieder akademisch, denn nach „Schule“ und diversen „Erkenntnissen“ warten nun noch ein paar „Lehren“ auf uns. Es handelt sich um acht Lektionen. Und zwar: „Lehre vom Respekt vor dem Alter“, „Lehre vom Verhängnis der ewigen Liebe“, „von der Ohnmacht der Moral“ und „von der List der Lüge“. Na los!, jetzt nicht schlappmachen. Den Rest schaffen wir auch noch. Here we go! „Lehre von der Rebellion durch Handschlag“, vom „Wert der Werte“ (der war gut!) über das „Geschenk der Geste“ bis hin zu … last but not least … „der Lüge aus Liebe“. Ich hoffe, ich habe hier vor lauter Genitiven nichts vertauscht oder verwechselt. Tatsächlich kommen mir die Kapiteltitel so vor wie ein auf hochwertiges Papier gedruckter Textbausatz zum Selber-Zusammenbauen. In früheren Jahren gab es mal so einen Schieber, der hieß „Phrasen-Dreschmaschine“. Nein, so weit würde ich nicht gehen, aber: Probieren Sie es doch einfach selbst mal aus und vertauschen Sie die Titel untereinander. Das klappt prima! „Die Schule vom Geschenk der Geste“ (oder war es „die Güte“?!) funktioniert sprachlich gespreizt genauso gut wie die „Lehre von der Harmonie des Unendlichen“ oder die „Erkenntnis von der Geborgenheit der ewigen Liebe“ … Fehlen eigentlich nur noch die dazugehörigen Reiseerlebnisse und -schilderungen in epischer Erzählgeschwindigkeit. Sie haben den Eindruck, dass ich mich lustig mache oder – was schlimmer wäre – gar ärgere?! Neiiiiin, gar nicht. Und falls doch, gibt es, als hätte man’s geahnt, den Epilog als „Gegenmittel“.
Der heißt nämlich „Kurze Philosophie der Versöhnung“ … — Ist Ihnen etwa die Reiselust vergangen?! Falls (immer) noch nicht, können Sie hier vom Baum der Erkenntnis naschen und die reine Lehre des (Unterwegs-)Seins in die Schule der Freiheitssuchenden tragen.
Ich bin dann mal weg.
Christian Schüle, Vom Glück, unterwegs zu sein. Warum wir das Reisen lieben und brauchen. München: Siedler in der Penguin Random House Verlagsgruppe 2022. 256 Seiten (Hardcover); ISBN: 978-3-8275-0157-8, 22,00 EUR.