Das Chamäleon ist ein faszinierendes Tier. Es passt sich der Farbe und den Bedingungen seiner Umgebung und seines „Hintergrunds“ an. Anpassungsfähigkeit und manchmal auch „perfekte Tarnung“ sind zwei Fähigkeiten oder auch nur: Eigenschaften, die nicht nur der Tierwelt, sondern auch der Menschheit schon häufiger mal das Überleben gesichert haben.

Ein solches Chamäleon ist auch die (autobiografische) Protagonistin dieses Romans: Annabel ist von klein auf eine solche Wandererin zwischen den Welten, was an ihrer Herkunft und Familiengeschichte liegt:
Sie ist aufgewachsen in einer bayerischen Kleinstadt, doch ihr Vater stammt aus Ägypten, und ihre Mutter mit dem urkatholischen Vornamen Maria hat vor Annabels Geburt eine Weile in New York gearbeitet. Die Familiengeschichte umspannt lt. Umschlagklappe innen „drei Kontinente und viele Jahrzehnte“.

Insofern ist Annabel sowohl räumlich als auch zeitlich eine Art „Weltenbürgerin“, was aber nicht nur aufregend und exotisch ist, sondern zugleich zwangsläufig und umständehalber zeitweise zu einer inneren Heimatlosigkeit und Entwurzelung führt. Dies gilt nicht nur sie, sondern auch für ihren Bruder André, der – und dies ist der Ausgangspunkt der Geschichte (und zugleich Historie) – im Sterben liegt, was auch der Anlass für Annabels Rückkehr in ihren (lt. Klappentext) „Heimatort“ in der bayerischen Provinz ist.

Aber … ist das wirklich der Ort, an dem sie Heimat fand oder wiederfindet?! „Eine Geschichte am Sterbebett wird zu einer Reise in die Vergangenheit“, verheißt der Klappentext. Verstanden! Die „Zutaten“ dieser (Selbst-)Findungsgeschichte sind somit offengelegt und der Bezug zu den „universellen Fragen“ des Lebens klar.
Anne-Dore Krohn (rbb kultur) schreibt dazu in ihrer Rezension:
„Eine lebendige, vielfarbige und mitreißende Familiengeschichte, die universelle Fragen stellt:
Was ist es, das uns prägt? Und was bleibt, wenn ein Leben viel zu früh zu Ende geht?“

Das klingt viel verheißungsvoller als das Zitat von Nora Gantenbrink (wer das genau ist, muss ich noch recherchieren), das sich ebenfalls auf der U4 des Buches befindet:
„Annabel Wahba erzählt, als könne sie den Tod ihres Bruders vielleicht doch noch aufhalten.
Eine Tausendundeine-Nacht-Geschichte aus der bayerischen Provinz.“

Ganz ehrlich? Bei dem Zitat kommt es mir so vor, als habe jemand das „Gute“ in „Nacht-Geschichte“ vergessen … Ist es nicht spannend, dass man über ein und denselben Roman so unterschiedliche Dinge sagen kann?! „Eine Geschichte [wie] aus ,1001 Nacht‘“ und das auch noch aus der bayerischen Provinz … puh! Das klingt für mich fast abtörnend. Aber gerade dieser Gegensatz bei den vom Verlag ausgewählten Einschätzungen macht die Story für mich dann fast noch interessanter.

Nicht abschrecken lassen vom esolila Cover und dem mildgelben Bucheinband … das hier gehört nicht in die „Esospiri-Ecke“.

Die Geschichte beginnt stilvoll mit einem Prolog, der bei Schneefall im Februar 2019 in Erding (oh ja, das *ist* bayerisches Kleinstadtfeeling) einsetzt.
Von dort aus beginnt die Reise bzw. konkret der „Aufbruch I“ des „ägyptisch-deutschen Chamäleons“, das symbolisch für das Geschwisterpaar Annabel und André steht. Der „Aufbruch römisch Eins“ ist ein langer und führt uns über München ins (in doppelter Hinsicht) „Hinterland“ der familiären Wurzeln nach New York, wohin ihre Mutter Maria 1955 reist, und dann wieder gedanklich wie zeitlich zurück ins Erding von 2019, ans Todesbett von André.

Daran schließt sich der „Aufbruch II“ an, auch eine Reise mit Sprüngen durch Zeit und (Kultur-)Raum. Sie führt ins Ägypten der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts (das klingt immer so, als sei es eine Ewigkeit her, ist aber „nur“ 1976) zur verstorbenen Großmutter über „Entscheidungen am Nil“ (Seite 109 ff.) und Bonn und Rothenburg ob der Tauber, dem Inbegriff deutscher Romantik, bis hin zurück nach München über Kairo 1964 wieder am Ende des „Aufbruchs II“ nach Erding ans Sterbebett von André.

Nach diesen zwei Aufbrüchen erwartet uns und Annabel – und das fühlt sich fast wie eine Belohnung oder eine Art von „Genugtuung“ an – das „Ankommen“ (Seite 183 ff.).
Doch das Chamäleon-hafte Leben wird weder Annabel noch ihre Familie wohl nicht verlassen. So räsoniert sie am Ende des Buches (bitte nicht davon irritieren lassen, dass Sie mit den Namen der genannten Personen jetzt nichts anfangen können, man versteht es auch so):
Nach Ägypten haben Sarah und ich [Annabel] es noch nicht geschafft. Aber Adam rief letzte Woche an, und wir unterhielten uns über seinen Sohn, der noch nicht genau weiß, was er jetzt nach dem Abitur studieren soll. Valentin, der als Dreijähriger in Kairo war, sah von allen sieben Enkelkindern immer am ägyptischsten aus. […] Valentin hat sich überlegt, dass er endlich richtig Arabisch lernen will, in Ägypten. Amirs Enkel zieht jetzt nach Kairo.

Ist das nicht interessant, dass man eine Nationalität, Zugehörigkeit oder, nüchtern ausgedrückt „Staatsangehörigkeit“ steigern kann: „ägyptisch – ägyptischer – am ägyptischsten“?!
Das Wandern zwischen den Zeiten(wenden), Nationalitäten, Sprachen, Religionen, Welten, Geschlechtern und Kulturen wird für mehr und mehr Menschen zum Schicksal oder … weniger pathetisch gesagt … zur Normalität ihrer Biografie. Annabel Wahba ist dafür ein lebendes Beispiel: Ist sie „deutsch-ägyptisch“ oder „ägyptisch-deutsch“ (wie das Chamäleon)?! Schade, dass sich die beiden Wörter morphologisch nicht so gut zu einem Adjektiv mischen lassen („deutisch“ oder „ägyptsch“, das klingt leider beides nicht gut).

Jetzt muss ich, bevor ich die Raum- und Zeitreise, die Annabel unternimmt, in Ruhe und nicht, wie hier, im Schnellverfahren nachverfolge, eigentlich nur noch verstehen, warum man sich im Verlag für dieses „klebrige“ Coverfoto mit „künstlichem gelben (Sonnen-)Licht“ und violettem „Zuckerguss“ (Palmen incl.) entschieden hat anstatt auf den eigentlichen Titelhelden, ein faszinierendes Chamäleon, zu vertrauen. Aber vielleicht hat sich das ja irgendwo zwischen den Palmen, getarnt durch eine lila-rosige Hautfarbe, versteckt und wartet nur darauf, dass wir es finden?!

Annabel Wahba, Chamäleon. Roman. Köln, Eichborn by Bastei Lübbe 2022. 285 Seiten, € 23,–; ISBN: 978-3-8479-0097-9; Erscheinungstermin: 26. August 2022. [Das ist die Originalausgabe/-sprache; das Buch wurde nicht aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt – aber … vielleicht steht ja der umgekehrte Weg noch an?!]