Jetzt, wo ich, zumal in der „staaden“ Zeit, gerade mal selbst *nicht* reise, ist endlich wieder Zeit für Indoor-Aktivitäten. Das Wetter ist grau und trüb, das Mittagessen ist verspeist und davor der Sport schon gemacht – ich habe Zeit und Muße (!), Papiere zu sortieren und liegen gebliebene Bücher anzuschauen.

Höchste Zeit, denn schon viel zu lange liegen die „Zugvögel“ bei mir aufm Trockendock oder, besser gesagt: im Bahndepot.
Ich hätte sie längst freilassen sollen. Denn das haben sie verdient.
Es war noch im alten Jahr, als ich die bebilderte Empfehlung für dieses Buch in einem Magazin entdeckte. Der vermeintlich oder tatsächlich doppeldeutige Titel zog mich als „(Zug-)Reisetante“ natürlich magisch an – mehr noch als die Coverabbildung. Jetzt, wo ich in einem anderen Raum sitze und das Buch, das ich inzwischen besitze, nicht vor mir liegen habe, weiß ich ehrlich gesagt ausm fotografischen Gedächtnis grad‘ gar nicht mehr, was auf dem Cover drauf ist. (Und ich verrate es hier übrigens auch nicht.)

Das liegt aber nicht daran, dass die Auswahl schlecht oder beliebig wäre – nein, es liegt vielmehr daran, dass dieses Buch so viele tolle Fotos und Abbildungen enthält, das ich gar nicht weiß, wofür ich mich entschieden hätten, wenn diese Qual der Wahl in meiner Verantwortung gelegen hätte. Wobei … je mehr ich darüber nachdenke und in dem Buch blättere, desto mehr glaube ich, ich hätte einem anderen Motiv den Vorzug gegeben. Mit der Buchrückseite kann ich zu 100 % mitgehen — und finde es einfach großartig, dass man hier das Bild ohne ein einziges Wort — geschweige denn ein werbliches — wirken lässt. Ein Mut, der hoffentlich belohnt wird und sich auch bei anderen Verlagen durchsetzt.
Für mich ist die Rückseite, die sog. „U4“, mehr als nur eine B-Seite, die man beliebig verhunzen kann, sondern das hidden oder zumindest zweite Cover des Buches. Nicht nur für schräge Vögel, die Bücher von hinten nach vorn durchblättern …

Aber eins nach dem anderen und vor allem: von vorn. Never judge a book by its cover, ist klar. Aber bitte auch nicht “… by its title“. Denn der hat mich – zumindest ein Stück weit – zunächst mal in die Irre geführt. Als ich von den „Zugvögeln“ las, war ich – in einem anderen Zusammenhang – gerade mit der ersten und naheliegenden Bedeutung der gefiederten Zugvögel befasst; insofern dachte ich automatisch, es handele sich um ein Buch bzw. einen Bildband über … Zugvögel, die es im Herbst in südliche Regionen zieht.
Dass der eindeutige Untertitel „Reisen mit der Eisenbahn auf den schönsten Strecken der Welt“ heißt, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.
Nein bzw. ach so!, es geht um weltweite Zugreisen und Zugreisende, und die Autorin, Monisha Rajesh (oder der Verlag), hat die Doppeldeutigkeit sicherlich bewusst so angelegt, denn Zugreisende sind oder tun es ja häufig den Vögeln gleich, die von einem Ort zum anderen reisen – und häufig auch wieder zurück.

Zugreisen/de (die gern auch mal schräge Vögel sind) also … umso besser! Das passt ja noch expliziter zu meinem Blog!

Als ich das Rezensionsexemplar aus dem großen grauen Kuvert ziehe, bin ich erstmal geplättet, denn: So riesig hatte ich mir das Buch gar nicht vorgestellt. Das ist ein richtig opulenter, schwergewichtiger und fast schon altmodisch-nostalgischer Bildband, eine Art „CoffeeTableBook“, das so, wie es aussieht, perfekt auf den Beistelltisch in einem etwas plüschigen OrientExpress gepasst hätte. Okay, bei dieser Vorstellung gehe ich mit. So please take your (reserved) seat and lean back – bereit zum Schwelgen.

Chattanooga von East to West and back … Here we come … or rather: go!

Die wunderbaren Doppelseiten mit nichts als einer stimmungsvollen Fotografie sind dafür genauso ideal geeignet wie die immer wieder eingestreuten Landkarten, und auch die „ganz normalen“ Doppelseiten … links Text, rechts ein (ganzseitiges) Foto oder Bild … sind einfach nur schön.

Egal, wo das nun wieder sein mag — da will man doch mit drinsitzen, oder?!

Bisher habe ich das Buch einfach nur durchgeblättert und angeschaut – und ungelogen noch keine einzige Zeile gelesen. Aber selbst wenn die Texte jetzt saublöd und schlecht geschrieben oder grottenlangweilig wären (aber warum sollten sie das sein?!), wär’s (fast) egal.

Allein das Wort „Nachtzug“ lässt unruhige Reisesehnsucht in mir entstehen.

Die Bildauswahl und die Gestaltung (Kunststück, bei einem, ich geb’s zu, dass ich ihn mag, Verlag, der „Gestalten“ heißt!) sind so ansprechend und im besten Sinne „sentimental“, dass einen – und mich sowieso – sofort die Reiselust packt. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinreisen und mit welchem Zug ich zuerst gern mitfahren würde … – Bitte betrachten und verstehen Sie diese Rezension also als uneingeschränkte und gradlinige (Reise-)Empfehlung für alle Zugvögel dieser Welt, und zwar zu jeder Jahreszeit und in allen Klassen … und solche, die erst noch Zug-Vogel werden wollen.

Bis es soweit ist, liegen die „Zugvögel“ jetzt erstmal auffordernd auf meinem (stationären) Beistelltisch – leider kilometerweit weg von „Orient“ und/oder „Express“, aber jederzeit bereit zum Aufgeschlagen-Werden und (Gedanken-)Reiseplanen. Und natürlich sollte dann unbedingt eine Nachtzug-Etappe dabei sein, denn das ist einfach Eisenbahnromantik pur.
Vielleicht seh’n wir uns ja demnächst mal in einem Großraumabteil – oder sind Sie vielleicht der- oder diejenige, die im Etagenbett über mir schläft?! Pleased to meet you and to share this experience! Ich hoffe, wir können überhaupt einschlafen vor lauter Aufregung und Reisefieber!

Monisha Rajesh: Zugvögel. Reisen mit der Eisenbahn auf den schönsten Strecken der Welt.
Berlin: Die Gestalten Verlag GmbH & Co. KG © 2021; ISBN 978-3-96704-034-0; 39,90 EUR