Kein Tag in Absurdistan ist wie der andere, denn das Leben denkt sich immer neue Skurrilitäten aus, und die Realität ist sowieso larger than life.

Der Morgen nach meinem offiziellen Abendtermin in Stadt D lässt sich zu Beginn eher unspektakulär an. Das Einzige, was anders verläuft als geplant, ist, dass ich spontan beschließe, entgegen des bereits von mir gebuchten Tickets etwa zwei Stunden früher aufzubrechen, weil ich aufgrund zweier kurzfristig angesetzter Termine eher wieder zuhause sein muss als bei der Buchung gedacht.

Das Frühstück wird also schnell hinuntergeschlungen, und wenige Momente später sitze ich auch schon in einem pünktlich gestarteten öffentlichen Verkehrsmittel zum Hauptbahnhof, der sich nur wenige Stunden nach gestern ebenfalls von seiner eher unspektakulären Seite zeigt, denn natürlich ist jede Momentaufnahme, auch die gestrige, in gewisser Weise ein zufälliger Schnappschuss und nur flüchtiger Eindruck von einer Realität, die ihrerseits körperlos ist und nur in unseren Vorstellungen existiert.

Statt in meinen normalerweise durchgehenden Regionalexpress steige ich nun also in einen ICE und finde, obwohl es Freitag ist, schnell einen freien Platz in der 2. Klasse.
Da die digital angezeigten Sitzplatzreservierungen offenbar nicht dem entsprechen, was einzelne Reisende oder auch Reisegruppen gebucht haben, entsteht kurz nach dem Einstieg eine gewisse Unruhe und ungesteuerte Bewegung im Abteil, von der ich aber insofern verschont bleibe, als dass ich zufällig einen Platz erwischt habe, auf den niemand Anspruch erhebt.

Irgendwann kommt es, wie es kommen muss: Die Zugbegleiterin geht durch den Gang und will mein Ticket sehen. Mir ist natürlich klar, dass es nicht in Ordnung ist, denn ich hatte ja ursprünglich einen privaten Regio gebucht – nun sitze ich aber, unrechtmäßig und aufschlagpflichtig, in einem ICE. Die Zugbegleiterin guckt mich prüfend an, guckt mein Händyticket an und dann wieder mich. Sie wirkt ein wenig ratlos und überfragt, aber alles andere als unfreundlich oder unkooperativ.
„Ja, ich weiß“, helfe ich ihr in vorauseilendem Gehorsam aus, „ich habe wahrscheinlich nicht das richtige Ticket und muss nachzahlen.“
„Nein, nein!“, widerspricht die Zugbegleiterin. „Das Ticket ist schon in Ordnung. Obwohl … nein, warten Sie! Ist es doch nicht …“ Sie ist sichtlich verunsichert und lässt ihren Blick wieder ruhelos zwischen meinem Display und mir hin- und herwandern. Offenbar versucht sie der Wegstrecke dazwischen zu entnehmen, ob es sich bei mir um eine besonders dreiste Betrügerin und Zechprellerin handelt.


„Wie viel muss ich denn nachzahlen?“, frage ich, auch um einem möglichen Rauswurf aus dem Zug zuvorzukommen, der mit einem Gesichts- und, schlimmer noch, einem weiteren Zeitverlust verbunden wäre.
„Nee“, sagt die Zugbegleiterin lächelnd, „lassen Sie mal! Stimmt schon: Eigentlich müssten Sie nachlösen, aber … das vergessen wir jetzt einfach mal!“
„Oh, dankeschön!“, sage ich erfreut und blicke erst jetzt auf ihr Namensschild, das sie am Revers der dunkelblauen Uniform trägt. Ihr Nachname entspricht 1:1 ihrem in meinen Augen vorbildlichen Verhalten, aber ich möchte ihn nicht nennen, damit sie nicht paradoxerweise am Ende noch Ärger mit der Betriebsleitung bekommt aufgrund ihrer großzügigen Vernunftsentscheidung. Seit der abwegigen Geschichte mit der selbstreferenziellen Zu-spät-Kommensstrafe für Bahnbeschäftigte, von der ich in wenigen Minuten hören werde, halte ich vieles für möglich.

Ich darf also zuschlagfrei weiterreisen bis zu meinem Umstiegsbahnhof in H. Der ICE nutzt seinen Geschwindigkeitsbonus umgekehrt proportional, um etwa eine halbe Stunde Verspätung einzufahren. Als ich aussteige, sehe ich den privat betriebenen Anschlusszug trotzdem noch ein paar Gleise weiter stehen. Gerade will ich zum Spurt ansetzen, da fährt der Zug ab, ganz so, als wolle er den staatlichen ICE-Reisenden schnell noch den Stinkefinger zeigen, indem er ihnen sehenden Auges vor der Nase wegfährt.

Ich konsultiere meine Bahn-App und die Anzeigetafeln. Wenn ich mich nicht irre, fährt nun etwa geschlagene zwei Stunden mehr kein Zug zu meinem Zielbahnhof, und es handelt sich dann exakt um den Zug, den ich ursprünglich hatte nehmen wollen (und für den ich mein Ticket gekauft habe).
Da ich das kaum glauben kann und einen Bedienerfehler meinerseits vermute, gehe ich ins spärlich besuchte Reisezentrum, wo zwei Auskunftsschalter geöffnet und besetzt sind. An dem einen diskutiert eine blau uniformierte Beschäftigte angeregt mit einem freundlichen jungen Schwarzen, der sein Händy in der Hand hält.
„Sie müssen die Bahn-App runterladen!“, ruft die Bedienstete latent ungeduldig und scharf. Bevor ich mich über ihre mangelnde Freundlichkeit wundern kann, wiederholt sie ihre Worte, die aber ungehört oder unverstanden verhallen. Diese Szene wiederholt sich noch zwei, drei Mal (sie: „Sie müssen die Bahn-App runterladen!“, er: hält ihr hilflos sein Händy entgegen), dann bin ich am Schalter nebenan dran und kann nicht mehr weiterverfolgen, wer hier die Oberhand behält und den längeren Atem hat.

Vorsichtshalber sage ich der Dame an meinem Schalter gleich, dass ich sauer bin, weil mein Zug nicht auf den ICE gewartet hat. Das quittiert sie automatisch mit der Antwort: „Nein, ich bin nicht sauer!“ – „Nein, nicht Sie, *ich* bin sauer!“, stelle ich klar, aber bevor auch dies zur Endlosschleife wird, erkundige ich mich nach dem nächsten Zug zu meinem Zielbahnhof. Sie findet trotz umfangreicher Recherche nur Züge, die noch später starten, dafür aber umso länger brauchen.
„Haben Sie denn da nicht diesen Zug um 12 Uhr xy, der anderthalb Stunden fährt?“, frage ich, ganz im Sinne der Kundenarbeit (anstelle des Dienstes am Kunden). – „Wo haben Sie *den* denn her?“, fragt sie zurück. Wir merken, dass wir uns sympathisch sind und müssen beide lachen. „Das ist ’n privater“, antworte ich. Sie sucht nochmals neu unter diesem offenbar spielentscheidenden Aspekt.
„Ah ja, da ist er. Hab‘ ihn! Nein, das ist tatsächlich der nächste. Eher geht’s nicht!“, bestätigt sie offiziell mein Suchergebnis.
„Hatte ich Ihnen eigentlich schon gesagt, dass ich sauer bin?!“, stelle ich sicherheitshalber nochmals klar, winke dann aber gleich ab und sage: „Naja, Sie wissen ja selbst, wo sie hier arbeiten.“
Das kann sie nicht leugnen, und sie erzählt mir zur Beruhigung solidarisch, dass sie selbst immer um 3 Uhr morgens aufstehe, um rechtzeitig und pünktlich gegen halb sieben hier an ihrem Arbeitsplatz anzukommen. — Ich staune, aber nur kurz.
„Wissen Sie, wenn wir zu spät kommen, müssen wir nämlich hohe Strafen zahlen“, lässt sie mich wissen.
Ich horche auf. „Moment mal! Wenn Sie aufgrund einer Bahnverspätung oder eines Zugausfalls zu spät zur Arbeit bei der Bahn kommen, dann müssen *Sie* Strafe zahlen?!“ Sie nickt. „Ja, so ist das!“

Spätestens jetzt wird mir klar, dass ein weiterer Tag in Absurdistan droht. Ich resigniere und füge mich in mein Tagesschicksal, und sie empfiehlt mir im Ausgleich dafür ein Café hier im Bahnhofsgebäude, in dem der Kaffee einigermaßen schmecke und die Kuchen ganz gut seien. Okay, ich habe ja jetzt ca. zwei Stunden Zeit zum Testen.
Ob sie denn zufällig wisse, ob es da Internet gebe, erkundige ich mich.
Sie verneint bedauernd, verweist mich aber auf das offene WiFi im Bahnhof, das auch, wie sich wenig später herausstellt, tatsächlich funktioniert, sodass ich an einem verkrümelten, etwas wackeligen Tisch ganz hinten im Café eine Weile weitgehend ungestört arbeiten kann.
Als ich von meinem Tablet aufblicke, sehe ich in der Bahnhofshalle einen bereits halb ökologisch abgebauten „Biodeutschen“, der einen offensichtlich (vom äußeren Schein her arabischen) Migranten unter den Wartenden zurückhaltend, aber bestimmt um Geld anschnorrt. Der Migrant wirkt in keiner Weise verwundert und holt lakonisch, als gebe es keine andere Reaktionsmöglichkeit, umgehend sein Portemonnaie hervor, öffnet das Münzfach, und eine einzelne Münze wechselt schweigend den Besitzer.

Auch die längste Wartezeit ist irgendwann vorbei, und es wird Zeit zusammenzupacken. Leider verfügt das Café trotz Bestuhlung und Tischen nicht über eine Kundentoilette; man verweist mich auf die öffentliche Toilettenanlage in der Bahnhofshalle. Obwohl hier der Gang zur Toilette mit einem Fantasiepreis von 1 EUR eingepreist ist, hat sich eine lange Schlange vor den „Ticketautomaten“ gebildet, die, wie üblich, zu ¾ aus Frauen besteht. Nach Einwurf des Geldes spuckt der Automat einen Einkaufsbon für den sog. „Einkaufsbahnhof“ aus, doch dieser ist bei den Bedürftigen wenig beliebt – die meisten lassen ihn liegen bzw. auf den Boden fallen; offenbar ist das natürliche Bedürfnis hier doch stärker ausgeprägt als die Kauflust. Die gut gekleidete Frau, die hinter mir wartet, sammelt ungeniert die heruntergefallenen und ligengebliebenen Einkaufsbons auf und steckt das kleine Bündel in ihre Jackentasche.

Es ist soweit. Ich sitze endlich und paradoxerweise in genau dem Regionalexpress, den ich ursprünglich gebucht hatte; insofern kann ich jetzt auch Phänomene wie Verspätungsausgleich und Fahrgastrechteformulare komplett knicken; lt. meinen Unterlagen bin ich ja nun völlig regulär und planmäßig unterwegs, nur dass sich meine Pläne zwischenzeitlich geändert haben, aber das ist ja nicht die Schuld der Bahn.
Um meine beiden kurzfristig angesetzten Termine noch zu erreichen, muss ich mir aber unbedingt ein Taxi an den Zielbahnhof, die nächstgelegene Kreisstadt, bestellen.
Drei Taxiunternehmen werden mir im Internet angeboten, gleich die erste Nummer rufe ich an, sehe aber auf meinem Display, dass man zu einem privaten Anbieter weitergeleitet wird, der einen zweifelhaften Ruf genießt. Schnell lege ich auf, bevor jemand abhebt.
Der zweite Anbieter geht schnell dran. Meine Anfrage könne er aber nicht aufnehmen, lässt man mich wissen, schließlich wisse man ja nicht, ob mein Zug pünktlich ankomme … und insofern solle ich nochmals anrufen, wenn dies abzusehen sei; dann (erst) würde man einen Wagen losschicken.
Das leuchtet mir zunächst nicht ein, denn ich bin Großstadt-sozialisiert und insofern gewöhnt, dass das Taxi da steht, wo ich ankomme (oder mich bereits befinde) … und nicht erst losfährt, wenn ich verbindlich am Ausgangspunkt angekommen bin. Dieser Logik kann der Mann in der Taxizentrale sich nicht anschließen.
Vielleicht kann ja der dritte und letzte Anbieter mein Weltbild wieder auf die Füße stellen. Dieser ist tatsächlich bereit, meine Bestellung anzunehmen, macht aber zur Bedingung, dass ich kurz vor der, sofern pünktlichen, Ankunft nochmals anrufe und mein pünktliches Eintreffen bestätige. Darauf lasse ich mich widerwillig und mangels Alternative ein.

Es zeichnet sich nun zuverlässig ab, dass ich Termin 1 von 2 aufgrund der Verspätung des REs nicht schaffen kann – es handelt sich um einen Handwerker, der, ohne äußere Not, turnusgemäß etwas überprüfen wollte. Er geht zwar gleich ans Telefon, ist aber mäßig erfreut von meiner kurzfristigen Absage. Ich biete ihm an, dass er gern später, so gegen halb zwei, kommen könne. Da arbeite er nicht mehr, sondern müsse seine Kinder betreuen, erfahre ich, und wundere mich vor allem über meine eigene Verwunderung über diesen Umstand (und ich meine nicht das mit der Kinderbetreuung, sondern das mit dem Feierabend gegen 12 Uhr).

Ich nähere mich meinem Zielbahnhof; die Verspätung beträgt mittlerweile zwischen 20 und 30 Minuten. Eine Station vorher rufe ich zuverlässig bei Taxibetreiber 3 an um ihn über die nach Bahn-Standards minimale Verspätung in Kenntnis zu setzen. „Dann muss ich aber jetzt leider das Taxameter anschalten!“, ist die lakonische Antwort. Da ich damit nicht einverstanden bin, entspinnt sich eine kleine, aber heftige Diskussion, die damit endet, dass einer von uns beiden etwas schneller beim Auflegen ist als der andere, wer genau, das kann ich nicht sagen und es tut auch nichts zur Sache.
Ich habe ja schließlich noch ein Ass im Ärmel und wähle die Nummer von Anbieter Nummer 2, das war der, der erst das Auto losschicken wollte, wenn ich bereits vor dem Bahnhof stehe. Obwohl ich ihm mitteile, dass ich nach menschlichem Ermessen in ca. 20 Minuten ankommen werde, lässt sich der Betreiber von diesem Vorgehen nicht abbringen – das Auto, so beharrt er, wird er erst dann losschicken, wenn ich mich nochmals vom Ankunftsbahnhof aus gemeldet habe. Ich versuche, ihn für meine Sicht der Dinge zu begeistern, was aber nicht gelingt, sodass ich auch hier nach kurzem Wortwechsel dankend auf die Dienste und vage in Aussicht gestellten Dienstleistungen verzichte. Das erweist sich als kluge Entscheidung, denn die kleine Regionalbahn, die hier die einzelnen Dörfer mit der Kreisstadt verbindet, fährt nur wenige Minuten später pünktlich ein, und in der Mitte des Tages kommt auch die Absurdität an ihre Grenzen und zu einem vorzeitigen Ende, aber „Absurdistan, halbtags“, das klingt einfach nicht gut, und ich habe es ja gerade bei dem Handwerker moniert.

So führt also eins zum anderen – und das Versagen eines Systems zieht unweigerlich eine Reaktion der davon abhängigen Subsysteme nach sich, so lange, bis der gesamte Kreislauf abwegig geworden ist. Dies trifft im Kleinen wie im Großen zu, und es bedarf eines großen Hebels, der kraftvoll und entschieden umgelegt werden müsste, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg quer durchs wilde Absurdistan und wieder zurück, bis auf die Gipfel der Absurdität und hinunter in die Niederungen des dort in den tiefsten Tiefen begrabenen gesunden Menschenverstands. Gäbe es nicht immer wieder einzelne Personen (bekannte und unbekannte), die mit ihrer Freundlichkeit und ihrem Restverstand Risse in dieses Schicksalsrad schlagen oder es kurz zum Stehen bringen, dann wäre all das kaum noch zu ertragen.