Some things never change … und insofern ist „Und dahinter das Meer“ von Marjaleena Lembcke in vielerlei Hinsicht (auch) für mich – ebenso wie für den Vater der, jetzt weiß ich es, autobiografischen Heldin des Buches – eine kleine Reise in die eigene Vergangenheit.
Auch ich war etwa 15 Jahre alt, als ich das erste Mal in Finnland war. Und meine finnische Gastfamilie hat mich u.a. mitgenommen nach Rovaniemi, wo auch (Marja-)Leena und ihr Vater, Richtung Hammerfest, Zwischenstation machen. Am ersehnten Polarkreis war ich dann auch, fand ihn aber, zumal so ganz ohne Nordlichter, eher unspektakulär. Da stand ein schmuckloses Schild, dass man jetzt am Polarkreis sei, und das war’s dann aber auch im Wesentlichen, finnisch nüchtern halt. — Elche habe ich unterwegs auch keine gesehen, aber Rentierfleisch gegessen und mich an der endlosen Weite der (überwiegend Birken-)Wälder und der viel zitierten 1.000 Seen („järvi“) erfreut. Ich habe dann auch ein „saari“ ganz allein für mich gefunden, vielleicht heißt es im Finnischen ja auch „eine“, aber das spielt weder im Buch noch für mich eine Rolle.
… und mit den Jungs war das, ebenso wie für Leena, auch so eine Sache, was natürlich dem verwirrenden Alter zuzuschreiben ist. Mein Schwarm hieß zwar nicht Wolfgang, aber ich muss es ja umgekehrt betrachten: Leena ist hier die Finnin und Wolfgang, der Deutsche, dem sie auf ihrer Reise begegnet, halt der Tourist aus Deutschland, aber auf einer weiteren Reise nach und durch Finnland habe ich einen Studenten aus einem „Drittland“ kennengelernt und mich später ziemlich in ihn verguckt. Auch er hat mir danach eine Weile, für seine nordisch-kühle Seele verhältnismäßig gefühlvolle, Briefe geschickt, die ich dann anfangs schnell beantwortet habe, aber die Pausen dazwischen wurden immer länger und die ohnehin wenigen Telefonate dafür immer kürzer und seltener, aber … ich sollte nicht vergessen, dass es hier ja gar nicht um mich geht, sondern um Leenas Reise mit ihrem Vater … mit dem Ziel Hammerfest in Norwegen.
Es ist für beide eine Reise zu sich selbst, aber zugleich mit dem erklärten Ziel, dass sich die beiden näherkommen bzw. die vorhandene, wortkarge Nähe bewahren, denn der Vater möchte seiner erwachsen werdenden Tochter vermitteln, was ihm wichtig ist, und das ist unter anderem die Weite und herbe Schönheit der Landschaft, die innere Suche nach dem Sehnsuchtsort Hammerfest (wo beide noch nie waren) und eine Erinnerung an seine Vorgeschichte und Vergangenheit, von der Leena, just coming of age, bisher noch nichts wusste.
Die beiden fahren mit einem klapprigen alten Auto (in Roadmovies oder -books sind die Autos ja fast *immer* klapprig) gen Norden, und der Vater macht nur ungern Station, so groß ist sein Drang und Wunsch, Hammerfest zu erreichen. Eine Zeitlang reist der unterwegs aufgegabelte Student Wolfgang mit ihnen, doch irgendwann trennen sich die Wege wieder, denn Wolfgang will ans Nordkap. Der Abschied gestaltet sich arm an Worten, aber, rückblickend, voller Romantik, die ich gut nachempfinden kann, kenne ich doch ähnliche Momente und Gefühle:
„[…] [Wolfgang und ich] tranken [Limonade] und aßen Nakkis, heiße kleine Bockwürstchen.
Dann sagte Wolfgang: „Deine Adresse!“
Ich nahm seinen Kugelschreiber und schrieb meine Adresse auf eine Serviette.
Er gab mir seine Adresse. […]
„Schreibst du mir?“ Er nickte.
„Du vergisst es, wenn du wieder in Deutschland bist!“
Er schüttelte den Kopf. „Ich vergesse es nicht.“
Ich zuckte die Schultern. War ja auch egal. Ich dachte an Hammerfest. Und an meinen Vater. Und daran, dass Wolfgang jetzt allein weiter zum Nordkap trampen würde. Keinen Abend mehr am Lagerfeuer. Kein gemeinsames Lied.
Nichts mehr. Nur noch Auf Wiedersehen sagen.“ (Seite 106/107)
In mancherlei Hinsicht wirkt die Geschichte so, als sei sie gerade erst passiert und könnte heutzutage, 25 Jahre später, jederzeit genauso wieder passieren, zwischen einem Teenager und einem Touristen, einer Einheimischen und einem Zugereisten … oder umgekehrt. Ich versuche zu ergründen, wann ungefähr Leena und Wolfgang ihren zeitlosen Abschied nehmen und komme anhand verschiedener Indizien und Beschreibung auf ca. Anfang der 60er Jahre. Erst auf Seite 111 von 143 gibt das Buch einen konkreten Hinweis: „Wolfgang […] war während des [2. Welt-]Krieges noch ein kleines Kind“, verteidigt Leena ihn, als die Rede auf deutsche Kriegsverbrechen in Lappland kommt, und „seit Kriegsende sind ja schon fünfzehn Jahre vergangen.“ Okay! 1945 + 15 Jahre … dann habe ich so in etwa richtig gelegen.
Aber kommen wir zurück zu bzw. nach Hammerfest, den emotional „aufgeladenen“ Zielort, den aber Leena und ihr Vater Olli auf dieser Reise gar nicht erreichen werden. Warum diese Stadt im hohen Norden so eine große Bedeutung für Olli hat, wird deutlich, als er, kurz vor Erreichen des selbstgesteckten Ziels bzw. in dessen Nähe, seine Verwandten besucht, die er jahrelang nicht mehr gesehen hat. „Hammerfest“ ist ein geflügeltes Wort und (v)erklärtes Ziel für die ganze Familie.
„Ja, ja, da wollen wir ja alle hin, aber nur, wenn nichts anderes mehr geht!“, ruft seine Schwester Hilma. Es bleibt unklar, wann denn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um dorthin zu fahren. „Wenn es einem schlecht ging oder wenn es einem sehr gut ging.“ Beides spricht dafür. Doch es ist ohnehin vielleicht keine gute Idee, dies auch in die Tat umzusetzen, denn: „Hammerfest soll sehr schön sein.“ Doch: „Schön wie ein Traum!“, sagt Hilma weise. „Träume sollte man nicht aus der Nähe betrachten. Ihr habt gerade rechtzeitig kehrtgemacht.“ (Seite 123)
Bevor ich die erhöhte Bedeutung von Hammerfest in den Worten von Leenas Großvater, die ihr Vater Olli am Ende des Buches zitiert, mit auf die (Lebens-)Reise gebe, möchte ich noch zwei Dinge auflösen: Das lang gehütete Familiengeheimnis, das der Vater auf der Reise endlich preisgibt, ist, dass er schon einmal verheiratet war und aus dieser Beziehung einen Sohn, sein ältestes Kind, hat, das er aber noch nie gesehen hat und das er auch auf dieser Reise ein weiteres Mal verpasst, ebenso wie die Mutter des Jungen, die wohl einmal das war, was man „die große“ oder auch die „erste große Liebe“ nennt.
Und: Ich habe das Buch wirklich innerhalb weniger Stunden (ich glaube, es waren weniger als zwei) in einem Rutsch komplett durchgelesen … alles so wie früher, auch dies, als ich als Kind und Jugendliche ein Buch nach dem anderen verschlang, was in späteren Jahren meiner Berufsdeformation wich.
Aber jetzt möchte ich am Ende dieser Rezension, die wider Erwarten für mich eine persönliche Reise geworden ist, Leenas Opa und ihren Vater unisono zu Wort kommen lassen:
Marjaleena Lembcke: Und dahinter das Meer. Zürich: Nagel und Kimche 1999, 144 Seiten. ISBN: 3-312-00836-0 … und als ich die Autorin google, stelle ich fest, dass sie noch lebt, und zwar schon sehr lange in Deutschland. Der Nachname lässt vermuten, dass sie mit einem Deutschen verheiratet war oder ist … und insofern kann es auch sein, dass sie „Und dahinter das Meer“ original bereits auf Deutsch verfasst hat … Das krieg‘ ich raus! — Und ob Leenas Vater Hammerfest doch noch erreicht hat, das müsst Ihr selber herausfinden. Ich weiß es schon.