Ich trau‘ mich das jetzt einfach! Ich setze mich – entgegen der angegebenen Fahrtrichtung – „In eine[n] Zug“ und mache eine heftige Gegenbewegung.

„In einem Zug“, das neue Buch von Daniel Glattauer, gefällt mir nicht. Ja, ich weiß, es wird gerade vielerorts wahrgenommen, gelesen, besprochen, gelobt, in Buchhandlungen präsentiert, …
Aber … ich mag es nicht und habe es (trotzdem) ungern ganz durchgelesen.

Warum ich auf diesen angefahrenen Zug des Lobs (Zitat: „Glattauers Dialogtechnik ist frappierend, raffiniert. Das ist gekonnte Prosa auf der Höhe der Zeit.“ TAGES-ANZEIGER) nicht aufspringe, das möchte ich natürlich nicht einfach so stehenlassen, sondern gern begründen.

Enttäuschte Erwartungen.
Kann es etwas Schlimmeres geben, wenn man sich auf ein bestimmtes Buch vorfreut — und dann hat man es in Händen, und … es hält so gar nicht das, was es (vermeintlich) versprochen hat?!
Daniel Glattauer wird auf dem Cover – nicht fest eingedruckt, sondern non-permanent per Aufkleber – als „SPIEGEL-Bestseller-Autor“ tituliert. Aha, man beachte die feinen Unterschiede! Dieses Buch ist also offenbar selbst (noch) kein „Spiegel-Bestseller“, der entsprechend eingeführte Autor war aber schon mindestens 1x „Spiegel-Bestseller“. Und nicht zuletzt diesem Umstand verdanke ich meine (zu) hohen Erwartungen an seinen neuesten Roman … und die zwangsläufig darauf folgende Enttäuschung.

„Gut gegen Nordwind“ von 2006 fand ich nämlich richtig gut. Okay, gelesen (im engeren Sinne) habe ich das Buch seinerzeit gar nicht, aber ich habe die wunderbare kongeniale Vertonung mit Andrea Sawatzki und Christian Berkel vom ersten bis zum letzten Wort verschlungen. Das war ein richtig schöner Text. Ein moderner „Briefroman“ (alter Schule), bei dem halt der Brief durch die E-Mail ersetzt worden war.
“Writing to the moment“ und “Talking to strangers“ in einer Weise, in der man manchmal nicht einmal mit Bekannten sprechen würde, das ist, literaturwissenschaftlich betrachtet, zwar nichts Neues, aber es war hier einfach schön und zeitgemäß umgesetzt. Das E-Mail-Schreiben war 2006 noch nicht vom Chatverlauf Stakkato-artigen WhatsAppens und vom Signal[s]-Senden abgelöst worden, sondern fühlte sich irgendwie seinerzeit vergleichsweise neu und aufregend an.

Und jetzt, fast zwei Jahrzehnte später, „In einem Zug“. Worin es, mal abgesehen von einer Zugfahrt von Wien-Hütteldorf zum Zielbahnhof München Hbf., die hier den äußeren und zeitlichen Rahmen setzt und für die Benennung der Kapitel („Stationen“) sorgt, darum geht, dass „ein Autor“, der vormals ein Bestseller-Autor war, irgendwie so recht keine Idee und keinen Drive mehr hat … da ist „kein Zug mehr drauf“, was er auch selber merkt.

… und so erfindet er nun – und spätestens jetzt verschmelzen der Erzähler und der ehem. Bestsellerautor zu ein und derselben Person – ein weibliches „Pendant“, das ihn wieder auf Ideen und auf Vordermann bringen soll, indem „es“, das Pendant, ihm auf der nur scheinbar zufällig gemeinsamen Zugfahrt von W. bis M. indiskrete und penetrante Fragen zu seinem Schaffen, seiner Schreibblockade und zu seinem unspektakulären Privatleben stellt.
Ich sage bewusst „es“, denn dieses Gegenüber in frühen mittleren Jahren bleibt trotz der Beschreibungen des Autors (ich rede ab jetzt von ein und derselben Person im Buch und als Autor desselben) seltsam farblos und blutarm. Es wirkt auf mich wie ein programmierter „Sprechapparat“ oder wie ein automatischer Sparringspartner, der, entsprechend gepromptet vom Autor selbst, Fragen absondert und mit einer gewissen Beharrlichkeit auf urheberrechtlichen Antworten besteht. Antworten, die der Autor nur bedingt geben will oder kann, ist er doch zugleich sichtlich bemüht, nicht zu viel von seinem Privatleben („seit Jahren glücklich verheiratet“) preiszugeben – und das tut er dann eben auch nicht, wohl mit Rücksicht auf die hier ebenfalls gedoppelte Ehefrau (die dann auch gleich im Buch eine Widmung, „Für Lisi“, bekommt und innen drin aber „Gina/Regina“ heißt).

Aufgrund des Umstands und Hindernisses, dass der Autor ja schon seit Jahren – in Klammern: glücklich – verheiratet ist und dies auch offensichtlich bleiben möchte, bleibt leider auch jedwede erotische Spannung auf der Strecke zwischen Wien und München ebendort (stecken), obwohl sie an der einen oder anderen Stelle, recht bemüht, durchblitzt.

Was also übrig bleibt, ist die sich zum Ende der Reise herausstellende Funktion der Frau „eher frühen mittleren Alters“, die einzig und allein darin besteht, dem ideen- und espritlosen Autor wieder einen Funken Kreativität einzuhauchen und ihm dann diese auch gleich wieder zu entlocken bzw. unermüdlich aus ihm herauszupressen.
Dies scheint, zumindest vordergründig, zu gelingen, denn herausgekommen ist ja offensichtlich am Ende der Fahrt und des langen Tages ein Roman, mit dem kleinen Unterschied zu wirklichem Leben, das dieser nicht in einem Münchner, sondern halt bei einem Kölner Verlag dann auch tatsächlich veröffentlicht wurde, aber dieses unwichtige Detail spielt hier m.E. keine zugkräftige Rolle.

Damit ist der „Verriss“ und der ins Stocken geratene Lese- und Schreibfluss doch für den Moment erstmal perfekt. The work, and damage, is done, könnte man meinen. Und ich bitte an dieser Stelle längst überfällig um Verständnis dafür, dass ich meiner Enttäuschung in dieser Weise Luft gemacht habe bzw. sie aus dem Buch herausgelassen habe wie aus einem Heißluftballon.

Tatsache ist, dass es (ich meine jetzt: das Buch) mir bereits als Vorankündigung aufgefallen war. Oh, wow! Glattauer, dessen „Gut gegen Nordwind“ ich in der Interpretation von Andrea Sawatzki und Christian Berkel mal so gemocht hatte, hat was Neues geschrieben, nachdem ich ihn jahrelang aus den Augen und aus dem Sinn verloren hatte.
Und dann auch noch ein Buch mit dem Titel „In einem Zug“ … Das hat mich – vgl. „Lebensthema/-ader“ und „Roter Faden“ dieses literarischen Blogs – natürlich sofort alarmiert und auf den Plan gerufen: Ich habe mich also doppelt auf das Buch gefreut und wollte es unbedingt (gern auch als eine der Ersten) rezensieren. Insofern war auch die Enttäuschung über diesen Roman eine zweifache und entsprechend heftige – dafür kann weder Herr Glattauer noch sein Kölner Verlag, geschweige denn der große Hauptbahnhof, der um dieses Buch gemacht wird, etwas.

Ganz ehrlich?! Ich glaube, dieses Buch ist eine Art „Zwischenstation“ im Schreiben und im Schaffensprozess des Autors (sowohl des Buch/anti/helden als auch des realen Autors selbst). Er hat „In einem Zug“ s/eine Schaffenskrise und Schreibblockade offengelegt und diese gleichzeitig für eine Art „Etüde“ genutzt, mit Hilfe derer er sich, Katalysator-artig, selbst wieder „aufs Gleis gesetzt“ hat.

Wenn das der oder zumindest ein Sinn des Buches war, dann freue ich mich, falls der Zweck nicht nur die Mittel heiligt, sondern sich dann auch noch erfüllt. Insofern mache ich gern beizeiten einen neuen Versuch mit Daniel Glattauer, wenn er – mit untrügerischem Gespür für den Zeitgeist und für seine mehr oder weniger intellektuelle Leserschaft – wieder ein Thema gefunden hat, das an die Leichtigkeit von „Gut gegen Nordwind“ anknüpfen kann.

Meine Prognose: Aber auch dieses Mal wird sich aus dem nun vorliegenden Buch eines „Spiegel-Bestseller-Autors“ erneut ein „Spiegel-Bestseller“ entwickeln – die Voraussetzungen dafür sind einfach gegeben, und die Schubkraft, die dieser Roman möglicherweise aus eigener Kraft nicht hat, wird durch den Zugbetrieb der Literaturbranche wettgemacht (werden). Die Aufmerksamkeit, die diesem Buch zuteil wird, dürfte genügen, um bei der nächsten Auflage den noch vorsichtigen Aufkleber in ein fest eingedrucktes Spiegel-Bestseller-Siegel zu verwandeln.

Und, lieber @ Herr Glattauer, falls Sie mir jetzt verständlicherweise ein bisschen böse sind, fahre ich, als echte Berufspendlerin, gern mal ein paar Stationen im ICE mit und löchere Sie mit (vorformulierten und spontanen) Fragen zu Ihrem aktuellen Projekt, denn darauf freue ich mich wirklich … immer noch und schon wieder. Beim nächsten Mal kommen wir wieder zusammen – garantiert!

Daniel Glattauer, In einem Zug. Köln: DuMont Buchverlag, (C) 2025. ISBN: 978-7558-0040-8. 23 EUR