Vieles lässt man zurück, wenn man einen Ort, an dem man länger war, dauerhaft verlässt.
Doch einiges nimmt man auch mit an den neuen Ort.
Neben Erinnerungen an Menschen, Plätze und Erlebnisse sind das manchmal auch einzelne Wörter, die man mit einem bestimmten oder vagen Gefühl verbindet oder die dieses besonders gut ausdrücken (und die nur vermeintlich untrennbar mit dem Ort verbunden sind, an dem man sie aufgegriffen hat).

Ein solches Wort – und Gefühl – ist: „stad“, das ich eigentlich fast nur in Verbindung mit „Zeit“ kenne: die „stade Zeit“. Manchmal auch mit zwei „a“ geschrieben, vielleicht um die Zähigkeit, Düsterkeit und Entschleunigung, die dahintersteckt, auch schriftlich durch einen Doppelvokal einzufangen.
Die „stade Zeit“ ist ein Ausdruck, den ich aus Bayern mitgebracht habe – das dazugehörige „schale“ Gefühl am Ende des Jahres ist allerdings ein, zumindest in unseren mitteleuropäischen Breitengraden, universelles.
Es ist wohl kein Zufall, dass sich „stad“ auf „fad“ reimt … und dass es mit „st-“ wie „still“ und „starr“ beginnt. Spätestens jetzt dürften auch diejenigen ohne süddeutsche (oder österreichische) Vergangenheit oder Gegenwart wissen, was mit „stad“ gemeint ist. Es liegt irgendwo zwischen Dezember und Januar und erreicht den Höhepunkt ab dem 27. Dezember, wenn die Weihnachtstage vorbei und die echten Kerzen abgebrannt sind.
„stad“ sind vor allem die Vakuumtage zwischen (oder ab) Weihnachten und Neujahr, an denen es gefühlt und meist auch tatsächlich nicht wirklich hell wird. Die Sonne, so man sie dann sähe, ginge sowieso nicht vor acht/halb neun auf … und abends wird es bereits gegen fünf Uhr dunkel, ohne dass es zuvor wirklich hell und licht geworden wäre.
Die Bäume stehen kahl, entblößt und staksig vor einem grauen, wolkenverhangenen Himmel – und plötzlich sieht man durch sie hindurch aus dem Fenster Dinge in der Ferne, die noch vor kurzem durch das dichte Blattwerk verdeckt und verkleidet gewesen sind.
Sobald man kurz die Wärme des Hauses verlässt, empfängt einen diese feuchte und zugige Kälte, die jeden noch so dicken Mantel durchdringt und sich bis tief ins Innerste durchfrisst. Man friert „von innen“. Der hochgeschlagene Mantelkragen hält sowieso nicht lange oben, wird vom Wind erfasst und klappt sich, kaum dass man wenige Schritte gegangen ist, eigenwillig wieder herunter unter der Wucht der Böen.
Ein feiner Nieselregen fällt unaufhörlich und fast unmerklich aus dem tief verhangenen Himmel; dass er da ist, merkt man zunächst nur an den mikrofeinen Tropfen, die in dichtem Abstand voneinander auf den Ärmeln des Mantels haften bleiben.
Wie ich mittlerweile weiß, gibt es nicht nur Zeiten, sondern auch Stellen und Orte, die „tiefstad“ sind, und zwar ganzjährig. Das Ausmaß an Tristesse wird hier an den dunklen Tagen zwischen den Jahren noch verstärkt, zieht sich aber ganzjährig durch.
Während ich dies schreibe, befinde ich mich an einem solchen Ort, der von Betongrau, Einsamkeit, Armut, Prekariat und Winterschmutz geprägt ist. Für solche Orte wurde wohl der Begriff „Tristesse“ aus dem Französischen ins Deutsche übernommen. Wenn ich die Schutzhülle meines aktuellen und vorübergehenden Aufenthaltsorts, einem hübsch möblierten Zimmer in einer von unglaublicher Trostlosigkeit geprägten Großstadt, verlasse, stehe ich bereits auf der Türschwelle des von außen heruntergekommenen Hauses mitten drin in der erbarmungslosen Realität. Dunkel und schäbig gekleidete Menschen, die mich aber eher an den Begriff „Gestalten“ denken lassen, huschen mit tief ins Gesicht gezogenen Kopfbedeckungen an mir vorbei wie nächtliche Geister. Die Kopfbedeckungen reichen von Mützen über Kopftücher bis hin zu Kapuzen, wobei übergroße Kapuzen in der Mehrheit zu sein scheinen, dicht gefolgt von den Kopftüchern und den dunklen Wollmützen.
In einem Land vor unserer Zeit habe ich zwischen den Jahren immer handschriftlich mit spitzem Bleistift die Adressen aus dem laufenden Jahr in den Adressteil des nächsten Taschenjahreskalenders übertragen und dabei neue hinzugefügt und alte, von denen ich meinte, sie nicht mehr zu benötigen, weggelassen.
Auch über die Reihenfolge der Namen und Adressen habe ich innerhalb der Buchstabengruppen (A B C, D E F, G H I, …) immer wieder aufs Neue entschieden, wobei unter dem Buchstaben meines eigenen Nachnamens, der eine Buchstabengruppe anführte, immer zuerst die Namen und die Adresse meiner Eltern kamen … solange ich solche analogen Adressbücher geführt habe.
Eine alte Telefonnummer meiner Eltern ist noch heute, wenn auch auf vercodete Weise, Teil einer häufig von mir verwendeten Geheimzahl.
Manche Namen und Adressen in den alten Taschenkalendern wurden mehrmals übertragen, und doch weiß ich nicht mehr, welche Person sich dahinter verbirgt. Andere Namen behaupten sich, wenn auch mit wechselnden Anschriften. Und es gibt auch ein paar wenige „Einjahresfliegen“, an die ich mich aber dennoch erinnere. Das Leben ist eine seltsame Sache.

Wer sich jetzt nicht nach draußen wagt, weil er ebenfalls keine analogen Adressbücher mehr befüllt, beginnt stattdessen optimistisch ein lange liegengebliebenes (oder soeben geschenkt bekommenes) Buch oder schaut stundenlang „Eskapismus“-Filme und Serien, mit einer Decke auf den Beinen, die das einzig Farbenfrohe an diesen Tagen ist. — Nur der Bildschirm flimmert dazu den ganzen Tag, und eine Serienfolge reiht sich nahezu ununterbrochen und ungestört, mehr oder weniger beachtet, an die nächste.
Dutzende Male schon gesehene Weihnachtsklassiker kommen Jahr für Jahr aufs Neue zum Flimmern und matten Glänzen, und wenn der abgegriffene Glanz nicht mehr ganz so taufrisch ist, macht das nichts … im Gegenteil! Ein bisschen nebelverhangene Patina schadet nicht, sondern trägt zu diesem untrügerischen „staden Gefühl“ bei.
Die „stade“ Zeit hat nämlich diese große Macht. Sie löst, zumal am Ende eines Jahres, ein dazugehöriges „stades“ Gefühl aus.
Denn nach zwölf zeitgerafft langen Monaten, in der dunklen und letzten Jahreszeit eines weiteren aufgebrauchten Jahres, mit der das „stade Gefühl“ in unseren Breiten nicht nur chronologisch einhergeht, ist der beste Moment zum Sentimental-Werden (oder Bereits-Sein), zum nostalgischen Sinnieren und Sortieren, zum vorläufig-vorsichtigen Bilanz-Ziehen und zur inneren Einkehr, egal, ob oder wie sehr man gläubig ist oder überhaupt noch an etwas glaubt, was im nächsten und „neuen“ Jahr besser werden könnte.
To be continued while this darksome time of the year is still lingering on and onto us …
