„In Krisenzeiten zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen“, sagt und hört man dieser Tage, in Zeiten der anhaltenden Pandemie, häufig.
Ja, das stimmt natürlich. Ich würde aber gern konkretisieren: „… in Zeiten eigener Krisen“.
Denn was kümmert mich z.B. die globale Klima- oder europäische Wirtschaftskrise, wenn ich gerade frisch verliebt bin und auf sieben rosa Wolken schwebe?! Selbstverständlich erkennt man in diesem Moment etwas von meinem „wahren“ Charakter, aber eben nicht von meinem Charakter in Krisenzeiten, sondern im Ausnahmezustand von Verliebtheit und Verblendung.
Heute geht es aber vor allem um das weiße Rauschen der Corona-Zeit und nur am Rande um persönliche Ausnahmesituationen … und somit ein bisschen um beides.
Man weiß und kann es von sich selbst bestätigen, dass viele Menschen in den Wochen und Monaten des Lock- und Shutdowns und des Herunterfahrens des öffentlichen Lebens angefangen haben, sich zurückzuziehen, ihren Wohnraum zu renovieren und ihr Leben neu zu sortieren – ohne Zweifel oftmals davon getrieben, *irgendetwas* zu haben, das sie ordnen und kontrollieren können, wenn das große Ganze dies schon nicht zulässt.
Und natürlich geht es auch um Ablenkung und Zerstreuung, um den schmerzhaften Kreis des Dauergrübelns und In-Depression-Verfallens zu durchbrechen. Dabei helfen bekanntlich bunte und bewegte Bilder auf flimmernden Bildschirmen … „Ich glotz‘ TV!“
So erging es auch einer guten Bekannten – fast schon Freundin – von mir. Um ihre Privatsphäre zu schützen und ihre Persönlichkeit nicht zu verletzen, nenne ich keine weiteren Daten und gebe ihr einen anderen Namen: Bianca.
Bianca hat zwar einen langjährigen festen Partner, aber sie wohnt allein. Außerdem ist sie im Home Office. Insofern hat sie häufig Gelegenheit bzw. Gelegenzeit ®, den Fernseher laufen zu lassen, damit er die ungewohnt lang anhaltende Stille durchbricht.
Eines Abends gerät Bianca auf Free-TV in eine neue Serie hinein. Sie kennt den Regisseur nicht. Sie kennt die Handlung nicht. Sie hat die Hauptdarsteller noch nie zuvor gesehen. In deren Heimatland scheinen sie ein gewisses Maß an Bekanntheit zu haben. Doch Bianca sieht sie zum ersten Mal.
Der wichtigste männliche Nebendarsteller trägt bei ihrer ersten (einseitigen) Begegnung einen breitkrempigen Hut, der ihm tief ins Gesicht gezogen ist. Bianca reagiert nicht.
Bei der zweiten Begegnung trägt er keinen Hut. Bianca durchzuckt es wie ein Blitz, als sie ihm ins Gesicht sieht. Sie starrt wie gebannt auf den Bildschirm und kann den Blick nicht abwenden.
Der junge Schauspieler sieht aus wie ihre sogenannte „erste große Liebe“!
Die Ähnlichkeit ist frappierend und aufdringlich und durchfährt sie wie ein abwechselnd heißer und kalter Schauer. Die Farbe der Augen, die der Haare, die Locken, die Statur, … – sie fühlt sich wie in einem Timetunnel und um Jahrzehnte zurückversetzt. Da auch die Handlung der Serie nicht in der Gegenwart, sondern in der jüngeren Vergangenheit stattfindet, ist der Effekt noch krasser. Es ist, als habe jemand die letzten 30 Jahre zurückgedreht und sie in ihre 20er Jahre zurückkatapultiert.
Bianca recherchiert. Nein, der Schauspieler trägt nicht denselben Namen wie ihre Jugendliebe – und dürfte insofern auch kein Verwandter von ihm sein. Es handelt sich offensichtlich um eine Laune der Natur oder – anders gesagt – um das, was man „Schicksal“ nennt, weil es ja bekanntlich Zufälle nicht gibt.
Bianca schaltet den Fernseher aus. Sie hat genug gesehen. Stattdessen geht sie in ihr Schlafzimmer und fördert aus einem tiefen und verborgenen Winkel ihres prall gefüllten Kleiderschranks eine Pappschachtel mit verblichenem Blumenmuster hervor. Die Pappschachtel ist mit einem bunten, mehrfach verknoteten Geschenkband verschlossen und „gesichert“. Bianca schneidet das Band mit einem Küchenmesser durch und öffnet den Deckel bzw. die Büchse der Pandora.
In der Schachtel liegen – das weiß sie – „Devotionalien“ aus ihrer gemeinsamen Zeit mit dem ,Alter Ego‘ des jungen Schauspielers, den sie soeben gesehen hat.
Es ist Jahre … nein, Jahrzehnte her, dass sie die Schachtel das letzte Mal geöffnet hat. Sie findet darin Dinge, von denen sie noch wusste, dass sie sie hat, aber auch Erinnerungsstücke, die sie längst vergessen hatte. Briefe, Visitenkarten von Hotels und Restaurants, alte Tickets, eine von Hand beschriebene Serviette und einen Bierdeckel mit einem selbstgemalten Rand aus roten Herzchen. So sah also seine Schrift aus! DAS alles hatte er ihr damals geschrieben! In diesem Hotel hatten sie also übernachtet! …! Die Erinnerungen stürzen nur so aus Bianca heraus und brechen voller Überschwang über sie ein. Das distanzierte Plusquamperfekt wird zur aufwühlenden Gegenwart.
Noch während der Inhalt der Schachtel ausgeschüttet vor ihr auf dem Teppichboden liegt, schaltet Bianca ihr Tablet ein und registriert sich neu bei Facebook. Erst vor kurzem war es ihr mühsam gelungen, ihren Account zu löschen – jetzt reaktiviert sie ihn ungeduldig und gibt seinen Namen ein.
Seltsam genug, dass sie das nicht schon längst mal wieder getan hatte in all den Jahren, die zwischen ihnen liegen. Sein Name ist selten genug, dass sie, auch ohne Profilbild, den Treffer, den sie landet, eindeutig identifizieren kann. Außerdem stimmt der alte Wohnort, den er offenbar nicht verlassen hat. Er ist es!
Fortsetzung: siehe „Sentimentalitäten in Krisen-Zeiten“, Teil 2