Tatsächlich gehört der Linienbus zu den Öffentlichen Verkehrsmitteln, die ich mit am seltensten benutze. Das liegt wohl daran, dass die Großstädte, in denen ich gelebt und gearbeitet habe, eine andere Infrastruktur haben, eine, bei der die Busse keine große Rolle spielen – zumindest nicht in meiner Wahrnehmung und Nutzung.
Das hat sich jetzt durch das Buch einer (ehem.) Berliner Linienbusfahrerin, Susanne Schmidt, geändert. Leider hat das Buch einen – wie ich finde – nicht besonders glücklichen Titel: „Machen Sie mal zügig die Mitteltüren frei“. Wäre es nicht im „mima“-Mittagsfernsehen vorgestellt worden, hätte ich mich vermutlich daraufhin nicht dafür interessiert.
Aber jetzt bin ich eingestiegen – und habe mich an verschiedenen Haltestellen ein- und festgelesen.
Der Hintergrund ist schon mal interessant: Eingestellt wurde Susanne Schmidt, weil man bei den Berliner Verkehrsbetrieben davon ausgeht, dass Frauen in mittleren Jahren (es geht also nicht nur um die Mittel-TÜREN) besonders stressresistent seien und deshalb besonders gut als Busfahrerinnen im hektischen Verkehrsgeschehen der Millionenstadt Berlin einsetzbar …
… und stressig ist es wirklich, was Susanne Schmidt da über ihren Alltag beschreibt. Es sind aber keineswegs nur uneinsichtige oder unangenehme Verkehrsteilnehmer*innen und Mitfahrer*innen, die ihr das Leben schwer machen, sondern auch die Bürokratie, die Tücken und Hindernisse des Berufsalltags, der Weg zur Einstellung, die Eingewöhnung und vor allem der Schichtbetrieb, der ihr schließlich, nach vergleichsweise kurzer Zeit, zum Verhängnis wird. Den offenbar nur vermeintlich besten und schönsten Beruf der Welt als Linienbusfahrerin hat sie inzwischen schon wieder an den Nagel gehängt …
Statt Kapiteln gibt es in diesem Buch – naheliegend, aber doch originell – Haltestellen, und die letzte davon ist stilgemäß … die Endstation, an der die Autorin dann aussteigt.
Eine für das ansonsten eher unpoetisch-sachliche, aber durchaus humorvolle Buch etwas untypische (Halte-)Stelle, die aber gut zum Thema dieses Blogs passt, habe ich als Zitat herausgesucht – die befindet sich auf Seite 10 und somit noch ganz am (hoffnungsvollen) Anfang der Buslinie. Einmal mehr geht es, wenn auch eher im weiteren Sinne, um „The Comfort of Strangers“ bzw. um die Magie von Zufallsbegegnungen und Bekanntschaften. Hier ist es nicht das gefürchtete „Aufzugsgespräch“, sondern das Aufeinandertreffen … im Linienbus:
Im Bus ist die namenlose Gemeinschaft unter Unbekannten das Netz, das alle sicher ankommen lässt. Traurige bekommen einen gut gemeinten Satz mit, allzu Muntere einen Dämpfer. Tüten und Taschen werden sortiert, Füße in Sicherheit gebracht, schreienden Kindern werden Bonbons gereicht oder Lieder vorgesungen. Freude und Stress werden ungefragt mitgeteilt. Im Bus redet man gerne laut, die anderen können ruhig hören, was einen bewegt. Die Anonymität der Großstadt funktioniert hier unter anderen Regeln, niemand kennt sich, es gibt keine weiterführende Verpflichtung zueinander, und gerade dadurch verliert man die übliche Scheu. Man schaukelt zusammen im Rhythmus, den der Straßenverkehr vorgibt, und taucht ein in den Mikrokosmos des jeweiligen Linienbusses.
Genau so ist das! Susanne Schmidt lässt uns ein kleines Stückchen mitfahren, -leiden, -leben auf ihrer Fahrt durch das riesige Berlin … und manchmal kennt sie selbst den Routenplan nicht so genau.
Da ich ein großer Fan der Romantik und besonderen Atmosphäre und Bedeutung von Wartehäuschen bin, freue ich mich ganz am Ende dieser Busfahrt über den Ausblick, den die Autorin gibt. Im Bekanntenkreis hat sie mal nachgefragt, ob denn jemand schon einmal etwas Besonderes in einem Wartehäuschen erlebt hat … — Haben Sie?!
Die Antworten sind so vielfältig wie das Leben. Manche haben beim Warten auf den Bus die Liebe gefunden, andere wurden Opfer von Taschendieben. Viele erzählen von überraschend tiefen Gesprächen mit Unbekannten. [Meine Rede! „The Comfort of Strangers“ … einmal mehr und immer wieder!] Oft gestaltet sich die Wartezeit allein durch das Aufeinandertreffen der unterschiedlichsten Menschen unterhaltsam. Einige haben zusammen mit sehr prominenten Schauspielern, Musikern, Politikern, Handwerkern gewartet. [Jetzt muss ich aber mal überlegen, welchen prominenten Handwerker <?!> ich kenne …] In Sommernächten wird getanzt und sogar gesungen, man teilt sich ein Bier, Gedichte werden rezitiert, akrobatische Kunststücke vorgeführt.
Die Neugier der Großstadt ist überall zu finden. Die Suche danach beginnt mit dem Warten auf den nächsten Bus.
Susanne Schmidt, Machen Sie mal zügig die Mitteltüren frei, München, hanserblau in der Carl Hanser Verlag GmbH, © 2021, 205 Seiten, EUR 17,–, ISBN: 978-3-446-26800-5