Ich weiß, alle wissen: „Reisen bildet.“ Aber offenbar kannst du so vielreisend sein, wie du bist, es schützt dich nicht vor Vorurteilen oder: vorschnellem Urteilen.
Die kleine Begebenheit, von der ich euch erzählen möchte, ist eigentlich nicht die wichtigste und beeindruckendste Geschichte, die ich bei dieser Reise erlebt bzw. Erfahrung, die ich gemacht habe. — Aber die beiden Erlebnisse, von denen ich hier und heute nicht berichte und auch nicht erzählen möchte, sind mir viel zu privat, als dass ich sie auf einem öffentlichen Kanal teilen wollen würde. Insofern ist dies hier eine Art „Ersatzhandlung“, ungefähr so, wie wenn man eigentlich eine ganze Tafel Schokolade auf einmal verschlingen möchte … aber stattdessen gemessenen Tempos und mit viel Selbstbeherrschung einen Halbfettjoghurt löffelt.
Ihr müsst euch jetzt also mit einer „semi-detached“ Schilderung zufrieden geben, die sich (für mich) allein deshalb schon jetzt gelohnt hat, weil ich endlich mal das obercoole Wort „semi-detached“ verwenden konnte, über das ich schon längst mal was hätte schreiben wollen.
Wie auch immer. Was ist passiert? — Besser gesagt: … hat sich zugetragen?, denn passiert im engeren Sinne ist eigentlich gar nichts oder, anders gesagt: Das, was Wichtiges passiert ist, will ich ja gar nicht erzählen.
Ich fahre mal wieder in einem Zug. Er habe „mittlere Auslastung“, heißt es, und das kommt so auch in etwa hin. Lange bleibe ich allein in meiner Doppelbank, starre ausm Fenster, klimpere aufm Laptop rum, höre Musik und starre wieder ausm Fenster. Die Reise ist so mittellang und auch ebenso unspektakulär und durchschnittlich.
Als ich — mehr aus Langeweile als aus Not-Wendigkeit — zum WC gehen will, erscheint ein dunkler Schatten über mir. Der Schatten gehört einem mittelalten, eher durchschnittlichen Typ, der komplett in Schwarz und Grau gekleidet ist und freiwillig eine nicht mehr vorgeschriebene FFP2-Schutzmaske aufhat. Er ist ziemlich kräftig, trägt solche Worker-Hosen mit unzähligen Taschen und hat wahrscheinlich auch irgendwo ein Taschenmesser mit Karabinerhaken an einer Kette stecken. Was er noch hat, ist ein einseitig, aber dafür komplett tätowierter Arm. Irgendwelche schwarze zackige (keltische?!) Ornamente, nichts Besonderes und auch nichts zum Nachlesen. Ich tippe auf einen Handwerker, vielleicht Dachdecker oder Zimmerer, worauf auch die kräftigen Hände schließen lassen.
„Darf ich …?“, fragt er. Er sagt zwar nicht dazu, wofür genau er meine Erlaubnis braucht, aber die Erfahrung hat mich gelehrt, dass die vollständige Frage lautet: „Darf (?) ich mich auf den freien Platz neben Ihnen setzen?!“ Fast so, als ob ich das zu entscheiden oder gar zu erlauben hätte. Egal, er darf.
„Soll ich auch eine Maske aufsetzen?“, frage ich höflich, „ich hätt‘ eine dabei.“
„Och nö“, sagt er, „wegen mir nicht. Reicht ja, wenn ich eine aufhabe. — Bin halt sicherheitshalber noch ’n bisschen vorsichtig.“
Ich schiebe den ohnehin nicht dringenden WC-Gang nochmals auf, lasse die Kopfhörer an und täusche Konzentration auf mich selbst vor. — Der vermeintliche Handwerker schiebt die Ärmel hoch und gibt damit den Blick auf die schwarze Ornamentik auf seiner Haut noch etwas freier. Er greift in seine Tasche und zieht ein dickes Buch hervor. Sieht nicht aus wie eine Anleitung für Zimmersleute.
Ist es auch nicht. Es handelt sich um ein Lehrbuch einer Spezialdisziplin der Medizin. Ach was?! Ein Handwerker, der sich autodidaktisch zum Laiendoktor fortbildet?! Wieder falsch!
Ich bin so neugierig, dass ich den mittlerweile für mich nicht mehr einzuordnenden Sitznachbarn anspreche. Was ich sage?!
„Darf ich Sie was fragen?“ So viel sinnentleerte Höflichkeit und beidseitiges vorsichtiges Um-Erlaubnis-Fragen erlebt man selten im öffentlichen Fernverkehr. — „Ja klar!“, sagt der Schwarzgekleidete entspannt.
Ich zaubere, für mich selbst überraschend, schnell eine pseudo-medizinische Laienfrage aus dem Hut, die der Typ knapp, aber zufriedenstellend beantwortet. Außerdem beantwortet er im Laufe des Gesprächs, das sich daraus ergibt, noch ein paar andere Fragen, die ich zwar nicht gestellt, aber trotzdem habe.
* Der Typ ist kein Handwerker, sondern … Arzt.
* Er steht kurz vor der Facharztprüfung in einer — zum Schutz seiner Persönlichkeit — hier nicht näher bezeichneten Disziplin der Klinikmedizin.
* Außerdem fährt er zusätzlich gelegentlich noch freiwillig Notarztwagen.
* Er schiebt hin und wieder Dienste in der Notaufnahme. (So viel „Not“ und „Nöte“ in einer Person können einen ganz nachdenklich machen.)
* Sein Bildschirmschoner aufm Händy ist das überwiegend blutrote Emblem eines Großstadtfußballvereins.
* Er scheint auch eine Familie zu haben; zumindest erwähnt er etwas, was darauf schließen lässt.
* Er erzählt nüchtern über seine ständigen Überstundenwochen — ganz ohne zu klagen oder gar zu jammern. Er konstatiert nur.
* Bis vor kurzem hat er im Krankenhaus in X. gearbeitet; jetzt arbeitet er in Y. (Nur eine dieser Städte liegt auf unserer Zugroute.)
* Er hält das deutsche Gesundheitssystem für komplett vor die Wand gefahren, worin wir uns einig sind.
* Als weitere Gemeinsamkeit entdecken wir die (tödliche) Krankheit einer nahen Angehörigen von mir, deren Bezeichnung in sein Spezialgebiet fällt.
Bevor er mir berichten könnte, dass er — letzter Bulletpoint — ab und zu auch noch für „Ärzte ohne Grenzen“ tätig sei und mich und meine Vorurteile vollständig deklassiert hat, erreichen wir unseren gemeinsamen Zielbahnhof.
Er steigt aus, ich steige aus — wir verabschieden uns kurz und gehen unserer Wege, er mit leichtem Gepäck, ich Rollkoffer-schiebend. Mit jedem meiner Schritte Richtung Ausgang rollt meine Verwunderung über meine eigene enge Weltsicht mit, die mich derart in die Vorurteilsfalle hat tappen lassen.
Den nächsten großflächig Tätowierten in Schwarz halte ich vorsorglich mal für einen, zumindest angehenden, Volljuristen — meine Vorurteile kann ich ja dann notfalls im Laufe eines klärenden Gesprächs immer noch abbauen.