Jetzt aber schnell! Immerhin ist heute schon der 20. Dezember!
Wenn ich mich nicht beeile, ist alles längst vorbei, bevor ich mein „Weihnachten in Prag“ verbracht habe …
Wie das klingt … „Weihnachten in Prag“ … Irgendwie muss ich da sofort an diese – in meiner Vorstellung verschneite – Brücke über die nebelverhangene Moldau denken, über die, in dicken Wintermänteln warm verhüllt, die Wollmützen tief ins Gesicht gezogen, unzählige Menschen, wenn auch mehr Touristen als Bewohner, von einer Seite des großen Flusses auf die andere huschen.
… und schon geht es los! Kaum habe ich ein paar Sätze geschrieben, muss ich auch schon was googlen. WIE heißt diese berühmte Brücke über die Moldau nochmal?! Ach, stimmt ja: Karlsbrücke.
Auf Tschechisch: Karlův most, mit einem Kringel über dem u. Immerhin habe ich somit gleich ein tschechisches Wort gelernt, das sich auch problemlos aussprechen lässt, denn wenn ich mir das im allwissenden Internet vorsprechen lasse, klingt es so, als würde der Kringel überhaupt nichts bewirken. „u“ bleibt „u“.
Aber ich schweife ab, wie es sich für vorweihnachtliche Gedanken vielleicht ja auch gehört … Möglicherweise liegt das ein bisschen daran, dass ich nicht gleich zugeben wollte, dass ich leider gar nicht in echt, sondern nur in Gedanken über Weihnachten nach Prag reise … Ich war zwar schon mal da, aber das ist schon Jahre her, und es war im Oktober, gleich nach der Frankfurter Buchmesse, aber so kalt, als sei es mitten im Winter …
Die Stadt ist beeindruckend. Zumal ich Städte liebe, die an einem großen Strom liegen – frühkindliche Prägung (danke, lieber Rhein!), die nun in späteren Jahren immer mehr zum Vorschein kommt.
Leider ist die Stadt Prag nicht nur Sehnsuchtsort für Atmosphäre und Feierlichkeit suchende Weihnachtsmänner und -frauen, sondern ein unglaublicher Touristenmagnet – und deshalb auch nicht ganz frei von blinkenden tikki-täkki-Disneyland-Allüren. Aber eine tief verschneite Karlův most, am besten noch in mild-gelbe Abendsonne getaucht, das finde ich immer noch eine wunderbare Vorstellung, die ich sogar, wenn ich kurz die Lider schließe, vor meinem inneren Auge abrufen und entstehen lassen kann. Aber es muss gar nicht bei der Vorstellung bleiben, denn wunderbare Zeichnungen vom winterlichen Prag, die hat diese kleine gedankliche „Winterreise“ auch zu bieten …
Was noch spannend an „Weihnachten in Prag“ ist, das ist nämlich das gleichnamige Buch von Jaroslav Rudiš, von dem ich Euch eigentlich heute erzählen will, und das noch vor Heiligabend! Dieses „s“ mit dem nach oben offenen Häkchen liegt nun ziemlich prominent obenauf unter EINFÜGEN in meinen Word-Symbolen, und der Grund dafür ist … Jaroslav Rudiš, von dem ich bereits zwei Bücher rezensiert habe (oder zumindest: hatte schon längst mal rezensieren wollen).
Ich nehme an, dass man dieses „š“ wie ein „sch“ in „Tschechisch“ (und somit wie das Geräusch einer alten Dampflok) ausspricht, bin mir aber nicht sicher, zumal ich dank meines LinkedIn-Kontakts zu Jaroslav „Jaroslav“ zu ihm sagen darf und eben nicht „pane“, wie das akzentfrei Tschechisch sprechende Internet für „Herr […]“ vorschlägt.
Aber die tschechische Sprache ist nur einer der geheimnisvollen Momente in diesem Buch und in dieser Stadt.
Aber … ich wollte mich ja eigentlich beeilen, obwohl ich
1.) „Weihnachten“ und
2.) „Prag“ und
3.) Abendsonne im Winter
irgendwie so gar nicht mit „sich beeilen“ verbinde. Machen wir also langsam.
Wer Heiligabend in Prag verbringen will und nicht dort wohnt, muss … klingt ebenso banal wie zwingend … erstmal dorthin reisen, und genau das tut der (autobiografische) Erzähler in „Weihnachten in Prag“ zu Beginn seiner Weihnachtsgeschichte. Um alsbald verloren zu gehen. Und das nicht zum ersten Mal.
Aber die Ankunft am Prager Hauptbahnhof ist gleich das erste Zitat wert. Schließlich sind es ja bekanntlich die ersten Sätze – bzw. bei Filmen: Minuten –, die darüber entscheiden, ob man dabei bleibt oder nicht.
Okay, dobre (mit demselben Häkchen, diesmal aufm r, das ich auf die Schnelle in meinem Zeichensatz nicht finde …) – ich bleibe!
… um ein paar Seiten weiter an der besagten Karlův most zu landen, aber dies leider auch wieder nur per „Lesereise“. Allerdings muss ich spätestens jetzt auf die stimmungsvollen Illus hinweisen, die es in „Weihnachten in Prag“ neben dem wunderbar lakonischen Text auch gibt und die einen nicht unwesentlichen Teil des Charmes dieses Buches ausmachen. Wie ich irgendwo gelesen habe, stammen sie von Jaromír 99 (mit einem Accent aigu auf dem „i“), der zugleich der beste Freund von Jaroslav sei und irgendeine Beziehung zum Jahr 1999 zu haben scheint.
Das müsst Ihr Euch angucken! Ist das nicht genau diese wunderbar tiefsinnige Melancholie und leise nostalgische Traurigkeit, die wir im Nachbarland Deutschland untrennbar mit Prag verbinden …?! Irgendwie scheint die ganze Stadt in eine Art sanften Sepiahauch getaucht zu sein. Daran können zum Glück für Prager und Nicht-Pragerinnen auch die schrillen Touristenbelustigungen und vermeintlichen -attraktionen nichts ändern oder gar kaputtmachen …
Damit nicht genug spielt Jaroslav selbst mit diebischer Freude mit Klischees und dem (neben Smetana und Karel Gott; irgendwo fehlt da bestimmt ein Häkchen …) wohl berühmtesten Tschechen, Kafka (Ka[v]ka), der „leibhaftig“ in dieser Prager Geschichte vorkommt.
„leibhaftig“?! Naja, nicht ganz … Aber ich will ja hier nicht zu viel verraten, außer vielleicht, dass der Dichter (also, jetzt meine ich wieder den Jaroslav) eine Weile zwei zu dem Zeitpunkt noch lebende Karpfen mit sich herumträgt, ganz „stilecht“ in einer durchsichtigen Plastiktüte, wie sich das für echte Weihnachtskarpfen gehört. Und ich wage mal die Vermutung, dass die beiden Fische statt in einer riesengroßen Pfanne mit jede Menge Öl in der Moldau landen werden. Wetten?! Aber womöglich bin ich inzwischen ja auch von zu viel Sepia benebelt.
Prag wäre wohl nicht Prag, wenn nicht auch das Bier eine gewisse Rolle spielen würde. Irgendwann ist unser Erzähler (von einem Helden will ich nicht sprechen) folgerichtig nicht nur ziemlich betrunken, sondern auch ein bisschen durcheinander geraten … Und weil er Züge, Bahnhöfe, Gleise, Loks und Schienen liebt und auch ein wenig Verliebtheit im Spiel ist, lebt er das dann im Rausch von Alkohol und Weihnachtstaumel so aus:
Weiter und weiter führt uns der weihnachtliche Spaziergang durch die heiligabendliche Stadt, weitgehend ungestört von lästigen und lärmenden Touristen … die berühmte Burg oben auf der Höhe (Hradčany), ein großer Friedhof, eine … nein … die schönste Kirche von Prag (zumindest in der Wahrnehmung des nächtlichen Wandlers) … wir lassen nichts weg oder aus.
Aber der Prager Hauptbahnhof ist bleibt der zentrale Sehnsuchtsort, um den sich alles dreht (und das nicht nur vom Alkohol-Rausch), selbst in einer Stadt wie Prag, in der man vielleicht sogar später leben wird. — Aber auch das wird nicht verraten, kann man ja auch noch gar nicht wissen und tut eigentlich sowieso erstmal nichts zur Sache.
Ein bisschen Weihnachtswunder und Nostalgie darf es doch wohl sein, oder?! Veselé Vánoce! (Auf diesem „c“ ist tatsächlich nichts drauf.)
Jaroslav Rudiš (mit einem nach oben offenen Häkchen aufm „s“): Weihnachten in Prag. © 2023 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH. Mit Illustrationen von © Jaromír 99. ISBN: 978-3-630-87754-9.