„Der Reisende“ ! Was für ein vielversprechender Titel. Und dann handelt es sich auch noch um ein für die ARD-Hörspieltage nominiertes Stück.
Aber ehrlich gesagt habe ich dieses Hörspiel beim Scrollen durch die ARD-Audiothek immer wieder überblättert, weil mir nicht (schon wieder) nach einer Geschichte aus dem Dritten Reich war – derer gibt es einfach schon so viele.

Aber der Titel hat mich nicht losgelassen … und heute habe ich mir das Hörspiel schließlich doch angehört. Und: Es hat sich, schon allein aufgrund einiger sinntragender Sätze wie „Ich bin hier nicht ich, sondern Beamter!“, gelohnt.

Worum geht’s? — November 1938. Der vermögende Berliner Kaufmann Otto Silbermann sinniert auf seiner Flucht: „Ich bin jetzt Reisender. Ein Immer-weiter-Reisender. Ich reise in Zügen, die durch Deutschland fahren.“ Dass er Jude ist, verrät sein Name mehr als sein Aussehen, denn – er sieht „arisch“ aus.

Seine Reise bzw. Flucht verläuft im Zickzackkurs in Zügen von Berlin über Hamburg und Dortmund nach Aachen – später vielleicht nach Leipzig … oder halt nach München, egal! Tatsächlich: Er könnte „überall hinfahren“, nachdem bei Aachen der Versuch, die Grenze nach Belgien zu überschreiten, gescheitert ist.

„Räder rattern, Türen geh’n. Geradezu vergnüglich könnte es sein! Man denkt nur zu viel!“, stellt Silbermann unterwegs, bei seinem zaghaften Versuch, das feindlich gesonnene Land zu verlassen, fest. Ein Koffer mit Geld, den er mit sich führt, erweist sich dabei als zwiespältiges Reisegepäck, teils belastend, teils hilfreich – Letzteres vor allem für die zufälligen Reisebekanntschaften und kurzzeitigen Weggefährten, die Silbermann „aus dem Koffer heraus“ mit seinem gebunkerten Geld versorgt. („Ich bin geflohen. Ich reise.“)

Als Silbermann am Ende seiner Fluchtreise (oder „Reiseflucht“) immer mutiger (oder verzweifelter?!) wird, traut er sich, zurück in Berlin, völlig selbstverständlich den Diebstahl seines (Geld-)Koffers bei der Polizei anzuzeigen, die damit nichts anzufangen weiß.
Jegliche Normalität ist unterwegs abhanden gekommen in diesem zerfahrenen, feindlichen Land.

Am Potsdamer Bahnhof steigt er in den erstbesten Zug, der Berlin verlässt – und lässt uns, fast ein Jahrhundert später ab hier seine Spur verlierend, ratlos zurück, wenn er – seine letzte „Durchsage“ – lakonisch feststellt: „Es gibt so viele Züge. So unendlich viele Züge. Ich bin jetzt Reisender. Ich reise in Zügen, die durch Deutschland fahren.“

Der Reisende | Geschichte [Hörspiel] nach dem gleichnamigen, neu entdeckten Jahrhundertroman von Ulrich Alexander Boschwitz aus dem Jahr 1938; Hörspielbearbeitung und Regie: Irene Schuck.
Sendetermin: Di., 22.10.19 | 1 Std. 10 Min.
© Norddeutscher Rundfunk 2019

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